In Mossul regt sich leise Leben
Die Schlacht um Mossul ist zu Ende, aber das Sterben geht weiter. Überlebende des IS-Terrors irren auf der Suche nach Wasser, Nahrung und Ärzten durch den Schutt.
Emad Tamo ist ein Greis im Körper eines Kindes. Ein Kind mit einem Totenkopf und einem Leib, der nur noch aus Knochen und Haut besteht. Irakische Soldaten schütten Wasser über den Buben, um den Staub abzuwaschen. Einer schneidet ihm die verfilzten Haare. „Habibi“, Liebling, flüstert der Schiit dem Jesiden ins Ohr. Er lässt jede Strähne wie ein zärtlicher Vater durch seine Finger gleiten. Die Soldaten stehen um das verhungernde Kind herum. Sie haben eine der härtesten Schlachten des 21. Jahrhunderts überlebt und sehen aus, als würden sie die Welt nicht mehr verstehen.
Marino Andolina von der deutschen Hilfsorganisation Cadus hat an diesem Tag schon zwei andere Kinder in Empfang genommen, die eher tot als lebendig angekommen sind. „Wenn sie schmutzig sind und am Verhungern, bedeutet das immer IS“, sagt der italienische Kinderarzt. Damit meint er, dass die Kinder aus der Altstadt von Mossul kommen. Zehntausende Zivilisten haben in den Ruinen Gruben gegraben, um sich vor dem IS zu verstecken. Die Mütter und Väter verzichteten oft auf die wenigen Lebensmittel und das Wasser, das aus Leitungen tropfte. Sie gaben ihren Kindern alles, was ess- oder trinkbar war. Als in der ersten Juliwoche die IS-Kämpfer aus weiten Teilen der Altstadt verschwanden und die Luftangriffe deutlich abnahmen, krochen die Kinder aus den Verstecken und ließen die Leichen ihrer verdursteten und verhungerten Eltern zurück.
Nachdem die irakischen Soldaten Emad Tamo vom Dreck befreit haben, tragen sie ihn vorsichtig wie eine Kiste voller Glas in eine Garage. Sie dient als Feldlazarett. Noch Anfang Juli war die Front nur eineinhalb Kilometer entfernt. Doktor Andolina schätzt das Alter des Kindes auf sieben Jahre. Er sei 15, sagt der Bub dem Übersetzer mit dünner Stimme. Die gute Nachricht sei, dass ein Jeside die vom IS beherrschten Gebiete lebend verlassen konnte, sagt der Arzt. Wie Emad Tamo überhaupt so lange überleben konnte, sei eine andere Frage.
Das Leben kehrt zurück in die zerstörte Stadt, als wollte es dem Tod ein Schnippchen schlagen. Wo noch vor wenigen Tagen geschossen und gestorben wurde, öffnen die ersten Läden. Doch je näher die immer noch in Teilen umkämpfte Altstadt rückt, desto größer wird die Stille. Es scheint, als wäre ein Tsunami durch diesen Teil Mossuls gerauscht. Er hat alles Lebendige mit sich gerissen und von den Gebäuden nur Schuttberge zurückgelassen.
Stefan Jarosch, ein Berliner Notfallmediziner, steuert den weißen Jeep der Organisation Cadus um die metertiefen Krater herum. Jarosch fällt an jedem Häuserblock eine Geschichte ein. Hier ist der verrückte Mann auf die Soldaten zugelaufen, wohl so ausgetrocknet, dass er seinen Verstand verloren hat. Erschossen, weil die Iraker ihn für einen Selbstmordattentäter hielten. Und da war das Haus, in dem sich eine Familie vor dem IS versteckt hat. Die Helfer nahmen die Halbverhungerten unter dem Beschuss der Heckenschützen huckepack. Jarosch fährt einen neu angekommenen Arzt aus Deutschland durch sein altes Revier. Er heißt Gerhard Trabert und kommt aus Mainz. Jarosch und seine Helfer werden der irakischen Armee in die Stadt Tal Afar westlich von Mossul folgen. Dort beginnt die nächste Operation gegen die Dschihadisten. Trabert bleibt in Mossul.
Jarosch steuert ein Feldlazarett der irakischen Armee an. Der einzige Raum, in dem in der Altstadt von Mossul Leben gerettet wird, ist so groß wie ein Ladengeschäft. Genau das war das Lazarett auch vor der Schlacht – eine Metzgerei, um genau zu sein. An der Wand sind noch die Fleischerhaken, an denen einst Rinderhälften hingen. Der Militärarzt Ahmad Hasham und sein Kollege Fuad Jassem von der 9. Division der irakischen Armee ruhen sich auf Klappstühlen aus. Wer ihnen zuhört, hat nicht das Gefühl, dass die Schlacht um Mossul wirklich zu Ende ist. Von Westen her würden IS-Kämpfer wieder in die Stadt eindringen, sagt Hasham. Ohnehin sei es nicht einfach, die IS-Kämpfer von Zivilisten der Stadt zu trennen. „Wir haben wenig Vertrauen in Zivilisten“, sagt er. Kämen sie in das Feldlazarett, hätten die Ärzte Angst, dass sie in Wahrheit Dschihadisten seien. „Wir haben Sanitäter verloren, weil ein angeblicher Zivilist dann doch einen Sprenggürtel gezündet hat“, sagt Major Jassem. „Die Behandlung von Soldaten geht für die Iraker vor der Rettung von Zivilisten“, sagt der deutsche Arzt Jarosch.
Der Feind sind die IS-Kämpfer, die 2014 aus dem Nichts kamen und von der sunnitischen Bevölkerung Mossuls mit Jubel empfangen wurden. Wer kann schon ausschließen, dass die Dschihadisten immer noch wie Fische im trüben Wasser schwimmen?
Als der Jeep wieder vor der Garage außerhalb der Altstadt hält, die der NGO Cadus als Stützpunkt dient, ist die Schlange der Patienten lang. Frauen in schwarzen Schleiern halten den deutschen Ärzten ihre hohlwangigen Kinder hin. Die Kinder essen nichts mehr, das sei der posttraumatische Stress, sagt Gerhard Trabert. Es ist schwierig, ins Gespräch zu kommen. Es herrscht ein Schweigen, das tief in die Seele zu reichen scheint. Wer Fragen stellt, bekommt knappe Antworten von Menschen, die keine Gefühle mehr zu haben scheinen. Über die irakische Armee verliert niemand ein böses Wort. „Sie sind nicht so, wie der IS uns erzählt hat. Sie helfen uns“, sagt der 18-jährige Ahmed Rakan. Weder er noch sonst wer in seiner Familie habe jemals Sympathie für die Dschihadisten gehabt. „Das sind Monster“, sagt er. Monster, die aus Ramadi oder Tikrit kämen, aber nicht aus Mossul selbst, meint er. Keiner wolle es jetzt gewesen sein, sagt Stefan Jarosch. „Wir Deutschen wissen doch, wie das läuft“, sagt er.
Wenig später wird sich zeigen, dass Ahmed Rakan unrecht hat. Irakische Soldaten tragen einen jungen Mann herein. Er stöhnt vor Schmerzen, am linken Arm trägt er einen schmutzigen Verband. Aufregung breitet sich aus, als sich herumspricht, dass er ein IS-Kämpfer ist.
Da liegt er nun, der Gotteskrieger. Lässt sich von Ungläubigen behandeln, während auf der anderen Seite des Raums der Jesidenbub an die Decke starrt. Irakische Soldaten umgeben das Krankenlager und stehen den Ärzten im Weg. Es sei ein Wunder, dass sie den Mann versorgen lassen, statt ihn an irgendeinem Straßenrand zu erschießen, sagt ein Helfer. Jarosch spritzt dem Dschihadisten ein Schmerzmittel, bevor der dreckige Verband gelöst wird. Dennoch schreit der Dschihadist, als Jarosch den Mull von der Wunde löst. Später wird klar, warum der IS-Kämpfer noch am Leben ist. Die Iraker erzählen, dass er der Neffe des Sicherheitschefs der Dschihadisten sei und Fragen beantworten soll. Er stamme aus einer Mossuler Familie, die sich ganz dem IS verschrieben habe. Der junge Mann ist betäubt von Tramadol. Das Schmerzmittel löst die Zunge des Kämpfers. Abdulrahman al-Hadidi heiße er und 25 Jahre sei er alt. Vor eineinhalb Jahren sei er ISKämpfer geworden, weil der Onkel es so gewollt habe, sagt er. Was könnte der Mann alles erzählen über den IS oder darüber, was er nach der Niederlage fühlt. Aber die irakischen Soldaten schauen schon unruhig herüber. Also kurz noch eine Frage: Ob er Mitleid habe mit dem halb verhungerten Jesiden am anderen Ende der Garage?
„Ja“, sagt er. „Hätte ich gewusst, was aus Mossul wird, hätte ich mich geweigert, zum IS zu gehen. Aber jetzt ist es zu spät“, sagt er.
Ob er damit sich selbst meint oder die Stadt, die in Trümmern liegt?