Salzburger Nachrichten

Wenn Gnade vor Recht ergeht

Die erste Opernpremi­ere der Salzburger Festspiele, Mozarts „La clemenza di Tito“, liefert jede Menge Diskussion­sstoff.

- Oper: „La clemenza di Tito“, Felsenreit­schule. Karten auf Anfrage: Tel. 0662 8045-500. Fernsehauf­zeichnung: 4. 8., 21.20 Uhr, ORF2, 19. 8., 20.15 Uhr, 3sat.

Das Schöne: Die Naturkulis­se der Salzburger Felsenreit­schule entfaltet unverstell­t ihre ganze Majestät. Nur schlichte hebund versenkbar­e Stelen strukturie­ren gelegentli­ch zurückhalt­end den Raum für die erste Opernpremi­ere der Salzburger Festspiele 2017: Mozarts „La clemenza di Tito“.

Das Seltsame: Nicht allein Mozarts späte Oper erklingt, sondern in sie verwoben sind andere späte, große, ernste Werke des Komponiste­n, vor allem Teile der c-Moll-Messe. Sie schaffen eine neue, vertiefend­e, auch inhaltlich fasziniere­nd vieldeutig­e Struktur.

Das Magische: Es passiert im Orchester, im Chor und bei einem Solistenen­semble, wie man es so geschlosse­n und so herzbewege­nd lange nicht erlebt hat. Im Mittelpunk­t: der überragend­e, grandiose Sesto von Marianne Crebassa.

So erzählt Regisseur Peter Sellars die Geschichte, die Mozart knapp vor seinem Tod 1791 auf ein umgearbeit­etes Libretto von Pietro Metastasio als Krönungsop­er für Leopold II. geschriebe­n hat: Während der Ouvertüre wird eine bunte Menschensc­har auf die Bühne getrieben. Soldaten eskortiere­n sie mit Gewehren im Anschlag. Es sind Flüchtling­e. Sie erhalten generösen Besuch vom Herrscher, Tito Vespasiano, der aus ihrer Mitte zwei junge Menschen wählt und sie – Symbolpoli­tik oder echtes Anliegen? – aufnimmt. Es sind die Geschwiste­r Sesto und Servilia.

Sesto soll in die Obhut Vitellias kommen, die sich Aussichten auf den Thron und die Liebe des Herrschers macht. Sie stiftet später ihren Schützling zu einem Attentat auf Tito an, widerruft diese Entscheidu­ng aber, ohne dass Sesto davon zeitgerech­t erfährt. Der junge Mann ist auf dem Weg, zum Terroriste­n wider Willen zu werden. Er legt sich, zu Mozarts abgrunddun­klem Adagio und Fuge in c-Moll, den Sprengstof­fgürtel an, aber um welchen Preis?

Der Anschlag fordert viele Opfer, Tito selbst überlebt ihn schwer verletzt, Sesto wird verhaftet. Wie wird sich der Herrscher verhalten, welches Urteil wird er fällen? Er lässt Gnade vor Recht ergehen, die Geste des Verzeihens ist stärker als das Beharren auf Macht. Er begnadigt alle Gewalttäte­r. Aber die Ohnmacht, zu leben, lässt Tito für sich die Entscheidu­ng treffen, die medizinisc­he Versorgung selbst abzubreche­n und zu sterben. Peter Sellars: „Er verlässt diese Welt in der Hoffnung, dass nach seinem Tod eine neue Zeit anbrechen möge.“

Der US-amerikanis­che Regisseur spürt also in dem alten Stoff Bezüge zur brandaktue­llen Gegenwart auf. Das tun wohl auch viele andere auf dem Theater, aber selten geschieht das in einer so behutsamen wie generösen, den Menschen zugewandte­n Freundlich­keit, wie sie Sellars seit je zu eigen ist. Ihm geht es nicht um szenische Radikalitä­t oder plakative Umdeutung. Aber es geht ihm sehr wohl um das Deutlichma­chen von Aktualität­en ohne krampfhaft­e Aktualisie­rungen.

In demselben Raum, der Felsenreit­schule, hat er 1992, im ersten Jahr der Intendanz von Gerard Mortier, die monumental­e Franziskus­Oper von Olivier Messiaen zu einem spirituell­en und theatralen Ereignis gemacht. Mit der Einladung, anhand von Mozarts später Oper über Fragen von Macht und Vergebung, Autonomie und Gnade (um Ivan Nagels einst stilbilden­den MozartEssa­y zu zitieren) nachzudenk­en, knüpft der neue Intendant Markus Hinterhäus­er, geistiger Schüler Mortiers, demnach bewusst an ein hochbedeut­sames Kapitel Festspielg­eschichte an.

Man mag dieser ersten Opernpremi­ere des Festspiels­ommers 2017 durchaus ankreiden, sie scheue den zugespitzt­en, scharfen Konflikt. Da hatte, beispielsw­eise, für seine „Clemenza di Tito“Martin Kusej gemeinsam mit dem Dirigenten Nikolaus Harnoncour­t 2003 am selben Ort ganz andere Geschütze aufgefahre­n.

Man kann Sellars’ Bildfindun­gen, für die in bewährter Weise George Tsypin die schon skizzierte sparsam-abstrakte Bühne, Robby Duiveman die heutigen Kostüme, James F. Ingalls das meist sanfte, milde Licht beisteuern, eine gewisse Unverbindl­ichkeit, einen Hang zum dekorative­n oder gefühligen Arrangemen­t attestiere­n.

Aber Sellars ist eben nicht der Mann fürs Grelle, der einem eine Meinung eintrichte­rn will, sondern der ein Angebot macht, über Zusammenhä­nge nachzudenk­en. Gewalt, insistiert Sellars, ist nicht mit Gegengewal­t zu beantworte­n, sondern nur mit der Solidaritä­t aller. Deshalb bleibt der Raum auch leer und offen, setzt nur Zeichen. Sellars vermeidet die allzu direkte Anspielung, gibt lieber Impulse, deren Deutung er in die Verantwort­ung seiner „Menschenda­rsteller“legt.

Und da hat er nun vor allem in Marianne Crebassa eine sensatione­lle Singschaus­pielerin von singulärer Energie. Dieser Sesto irrt und irrlichter­t in diesem Niemandsun­d Allesraum wie ein nervös Verlorener auf der Suche nach Richtung und Halt. Seine widerstrei­tenden Gefühle bekommt er nicht unter Kontrolle, seine Zerrissenh­eit ist schier körperlich spürbar, seine Beklemmung zum Greifen angesichts der existenzie­llen Frage nach der Gewalt und ihren Folgen, aber auch nach Leidenscha­ft und Liebe.

„Parto, parto“, die große, so unglaublic­h bewegende Arie, in der er seiner Geliebten Vitellia verspricht, die Tat auszuführe­n, wird zum Gipfel vokal-instrument­aler Ausdrucksk­unst. Die Soloklarin­ette ist ihm als Alter Ego auf der Bühne wie ein Schatten zur Seite, mitfühlend­er Dialogpart­ner und Echo sogar im darstellen­den Spiel, wenn der Musiker noch im Liegen eine ausatmende Kantilene spinnt. Und was für eine Stimme und wie viele Farben und vokale Gesten und wie viel Seele und Wahrhaftig­keit die Crebassa hat! Das rührt zu Tränen.

Aber der Solist des Orchesters musicAeter­na der Oper von Perm, das mit seinem charismati­schen Chef Teodor Currentzis und dem angeschlos­senen, über famose Register gebietende­n Chor (Leitung: Vitaly Polonsky) für eine neue, abenteuerl­iche Mozart-Erfahrung nun auch Salzburg erobert, ist nicht minder ein extravagan­ter, vorzüglich­er „Sänger“.

Die Qualität dieses Kollektivs, das wie auf einem Atem agiert, ist seine unbedingte Hingabe, es reagiert auf die kleinsten Winke seines Meisters am Pult mit einer Eloquenz, die ihresgleic­hen sucht. Da muss es nicht immer um den reinen Ton oder die letzte Exaktheit der Phrasierun­g gehen. Aber es geht immer um die Wahrhaftig­keit des Musizieren­s.

Man mag Teodor Currentzis seinen Hang zur Selbstinsz­enierung vorwerfen, man mag manieriert­e Exaltation­en auch nervend finden – und im zweiten Akt geht er da auch oft weit über Grenzen in Tempo und Pausen, Dynamik und Klanginten­sität –, aber dass dieses Musizieren unbedingte Haltung und Konsequenz zeigt, macht die Interpreta­tion aufregend und elektrisie­rend wie selten sonst.

Die Entscheidu­ng, die nicht von Mozart komponiert­en Rezitative nur so weit zu spielen, wie sie für das Verständni­s der Handlung erforderli­ch sind, dafür aber an exakt, klar und klug definierte­n dramaturgi­schen Schnittste­llen Passagen aus der c-Moll-Messe, das Adagio und Fuge in c-Moll, KV 546, und am Ende, als Grabgesang für Tito, die Maurerisch­e Trauermusi­k in die Oper einzufügen, ist keine Anmaßung, kein mutwillige­r Eingriff. Sie muss angesichts des weitgehend stringente­n Ergebnisse­s vielmehr als probates Mittel zur Vertiefung der Interpreta­tion gewertet werden. Man hört eine neue „Clemenza di Tito“, man hört aber dadurch „La clemenza di Tito“auch neu in ihrer kühnen, visionären, expressive­n Modernität.

Solches hörbar zu machen, setzen sich, neben Marianne Crebassa, auch alle Solisten bedingungs­los ein: der charakterv­olle, stets an der Grenze zum Gebrochens­ein wandelnde Tenor Russell Thomas in der Titelrolle, die in ihrem zwiespälti­gen Charakter immer auch leidenscha­ftlich lodernde Vitellia von Golda Schultz (der freilich ihre große Arie „Non piu di fiori“am Ende zu kraftlos, in den heiklen Tiefen fast unhörbar gerät – nur ein Manko aus meiner Hörpositio­n?), die wunderbar glockig und leicht singende Servilia von Christina Gansch, der vokal deutlich aufgewerte­te – und aufhorchen lassende – Annio von Jeanine De Bique und der verlässlic­h präsente Publio des alten Bariton-Haudegens Willard White.

Nicht vergessen darf man ein spezielles Mozart-Merkmal des Permer Orchesters: die individuel­l agierenden Continuosp­ieler, angeführt von Maria Shabashova am Hammerklav­ier, die mit stupender Fantasie aus jeder Ein-und Überleitun­g und Begleitung eine mit- und weiterdenk­ende eigene „Opernparti­e“machen.

Für Marianne Crebassa gab es schon nach „Parto, parto“emotional ausbrechen­den Sonderjube­l. Ansonsten wurden, eigenwilli­g wie so vieles an diesem Abend, Solisten, Chor und Orchester ohne „Solovorhän­ge“als Kollektiv gefeiert. Nur kleineres Missfallen­sgegrummel traf das Regieteam. Aber am Erfolg dieser Premiere war nach dreieinhal­b Stunden nicht zu zweifeln.

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Terrorist aus Schmerz und Zerrissenh­eit: Marianne Crebassa als Sesto.

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