Wenn Gnade vor Recht ergeht
Die erste Opernpremiere der Salzburger Festspiele, Mozarts „La clemenza di Tito“, liefert jede Menge Diskussionsstoff.
Das Schöne: Die Naturkulisse der Salzburger Felsenreitschule entfaltet unverstellt ihre ganze Majestät. Nur schlichte hebund versenkbare Stelen strukturieren gelegentlich zurückhaltend den Raum für die erste Opernpremiere der Salzburger Festspiele 2017: Mozarts „La clemenza di Tito“.
Das Seltsame: Nicht allein Mozarts späte Oper erklingt, sondern in sie verwoben sind andere späte, große, ernste Werke des Komponisten, vor allem Teile der c-Moll-Messe. Sie schaffen eine neue, vertiefende, auch inhaltlich faszinierend vieldeutige Struktur.
Das Magische: Es passiert im Orchester, im Chor und bei einem Solistenensemble, wie man es so geschlossen und so herzbewegend lange nicht erlebt hat. Im Mittelpunkt: der überragende, grandiose Sesto von Marianne Crebassa.
So erzählt Regisseur Peter Sellars die Geschichte, die Mozart knapp vor seinem Tod 1791 auf ein umgearbeitetes Libretto von Pietro Metastasio als Krönungsoper für Leopold II. geschrieben hat: Während der Ouvertüre wird eine bunte Menschenschar auf die Bühne getrieben. Soldaten eskortieren sie mit Gewehren im Anschlag. Es sind Flüchtlinge. Sie erhalten generösen Besuch vom Herrscher, Tito Vespasiano, der aus ihrer Mitte zwei junge Menschen wählt und sie – Symbolpolitik oder echtes Anliegen? – aufnimmt. Es sind die Geschwister Sesto und Servilia.
Sesto soll in die Obhut Vitellias kommen, die sich Aussichten auf den Thron und die Liebe des Herrschers macht. Sie stiftet später ihren Schützling zu einem Attentat auf Tito an, widerruft diese Entscheidung aber, ohne dass Sesto davon zeitgerecht erfährt. Der junge Mann ist auf dem Weg, zum Terroristen wider Willen zu werden. Er legt sich, zu Mozarts abgrunddunklem Adagio und Fuge in c-Moll, den Sprengstoffgürtel an, aber um welchen Preis?
Der Anschlag fordert viele Opfer, Tito selbst überlebt ihn schwer verletzt, Sesto wird verhaftet. Wie wird sich der Herrscher verhalten, welches Urteil wird er fällen? Er lässt Gnade vor Recht ergehen, die Geste des Verzeihens ist stärker als das Beharren auf Macht. Er begnadigt alle Gewalttäter. Aber die Ohnmacht, zu leben, lässt Tito für sich die Entscheidung treffen, die medizinische Versorgung selbst abzubrechen und zu sterben. Peter Sellars: „Er verlässt diese Welt in der Hoffnung, dass nach seinem Tod eine neue Zeit anbrechen möge.“
Der US-amerikanische Regisseur spürt also in dem alten Stoff Bezüge zur brandaktuellen Gegenwart auf. Das tun wohl auch viele andere auf dem Theater, aber selten geschieht das in einer so behutsamen wie generösen, den Menschen zugewandten Freundlichkeit, wie sie Sellars seit je zu eigen ist. Ihm geht es nicht um szenische Radikalität oder plakative Umdeutung. Aber es geht ihm sehr wohl um das Deutlichmachen von Aktualitäten ohne krampfhafte Aktualisierungen.
In demselben Raum, der Felsenreitschule, hat er 1992, im ersten Jahr der Intendanz von Gerard Mortier, die monumentale FranziskusOper von Olivier Messiaen zu einem spirituellen und theatralen Ereignis gemacht. Mit der Einladung, anhand von Mozarts später Oper über Fragen von Macht und Vergebung, Autonomie und Gnade (um Ivan Nagels einst stilbildenden MozartEssay zu zitieren) nachzudenken, knüpft der neue Intendant Markus Hinterhäuser, geistiger Schüler Mortiers, demnach bewusst an ein hochbedeutsames Kapitel Festspielgeschichte an.
Man mag dieser ersten Opernpremiere des Festspielsommers 2017 durchaus ankreiden, sie scheue den zugespitzten, scharfen Konflikt. Da hatte, beispielsweise, für seine „Clemenza di Tito“Martin Kusej gemeinsam mit dem Dirigenten Nikolaus Harnoncourt 2003 am selben Ort ganz andere Geschütze aufgefahren.
Man kann Sellars’ Bildfindungen, für die in bewährter Weise George Tsypin die schon skizzierte sparsam-abstrakte Bühne, Robby Duiveman die heutigen Kostüme, James F. Ingalls das meist sanfte, milde Licht beisteuern, eine gewisse Unverbindlichkeit, einen Hang zum dekorativen oder gefühligen Arrangement attestieren.
Aber Sellars ist eben nicht der Mann fürs Grelle, der einem eine Meinung eintrichtern will, sondern der ein Angebot macht, über Zusammenhänge nachzudenken. Gewalt, insistiert Sellars, ist nicht mit Gegengewalt zu beantworten, sondern nur mit der Solidarität aller. Deshalb bleibt der Raum auch leer und offen, setzt nur Zeichen. Sellars vermeidet die allzu direkte Anspielung, gibt lieber Impulse, deren Deutung er in die Verantwortung seiner „Menschendarsteller“legt.
Und da hat er nun vor allem in Marianne Crebassa eine sensationelle Singschauspielerin von singulärer Energie. Dieser Sesto irrt und irrlichtert in diesem Niemandsund Allesraum wie ein nervös Verlorener auf der Suche nach Richtung und Halt. Seine widerstreitenden Gefühle bekommt er nicht unter Kontrolle, seine Zerrissenheit ist schier körperlich spürbar, seine Beklemmung zum Greifen angesichts der existenziellen Frage nach der Gewalt und ihren Folgen, aber auch nach Leidenschaft und Liebe.
„Parto, parto“, die große, so unglaublich bewegende Arie, in der er seiner Geliebten Vitellia verspricht, die Tat auszuführen, wird zum Gipfel vokal-instrumentaler Ausdruckskunst. Die Soloklarinette ist ihm als Alter Ego auf der Bühne wie ein Schatten zur Seite, mitfühlender Dialogpartner und Echo sogar im darstellenden Spiel, wenn der Musiker noch im Liegen eine ausatmende Kantilene spinnt. Und was für eine Stimme und wie viele Farben und vokale Gesten und wie viel Seele und Wahrhaftigkeit die Crebassa hat! Das rührt zu Tränen.
Aber der Solist des Orchesters musicAeterna der Oper von Perm, das mit seinem charismatischen Chef Teodor Currentzis und dem angeschlossenen, über famose Register gebietenden Chor (Leitung: Vitaly Polonsky) für eine neue, abenteuerliche Mozart-Erfahrung nun auch Salzburg erobert, ist nicht minder ein extravaganter, vorzüglicher „Sänger“.
Die Qualität dieses Kollektivs, das wie auf einem Atem agiert, ist seine unbedingte Hingabe, es reagiert auf die kleinsten Winke seines Meisters am Pult mit einer Eloquenz, die ihresgleichen sucht. Da muss es nicht immer um den reinen Ton oder die letzte Exaktheit der Phrasierung gehen. Aber es geht immer um die Wahrhaftigkeit des Musizierens.
Man mag Teodor Currentzis seinen Hang zur Selbstinszenierung vorwerfen, man mag manierierte Exaltationen auch nervend finden – und im zweiten Akt geht er da auch oft weit über Grenzen in Tempo und Pausen, Dynamik und Klangintensität –, aber dass dieses Musizieren unbedingte Haltung und Konsequenz zeigt, macht die Interpretation aufregend und elektrisierend wie selten sonst.
Die Entscheidung, die nicht von Mozart komponierten Rezitative nur so weit zu spielen, wie sie für das Verständnis der Handlung erforderlich sind, dafür aber an exakt, klar und klug definierten dramaturgischen Schnittstellen Passagen aus der c-Moll-Messe, das Adagio und Fuge in c-Moll, KV 546, und am Ende, als Grabgesang für Tito, die Maurerische Trauermusik in die Oper einzufügen, ist keine Anmaßung, kein mutwilliger Eingriff. Sie muss angesichts des weitgehend stringenten Ergebnisses vielmehr als probates Mittel zur Vertiefung der Interpretation gewertet werden. Man hört eine neue „Clemenza di Tito“, man hört aber dadurch „La clemenza di Tito“auch neu in ihrer kühnen, visionären, expressiven Modernität.
Solches hörbar zu machen, setzen sich, neben Marianne Crebassa, auch alle Solisten bedingungslos ein: der charaktervolle, stets an der Grenze zum Gebrochensein wandelnde Tenor Russell Thomas in der Titelrolle, die in ihrem zwiespältigen Charakter immer auch leidenschaftlich lodernde Vitellia von Golda Schultz (der freilich ihre große Arie „Non piu di fiori“am Ende zu kraftlos, in den heiklen Tiefen fast unhörbar gerät – nur ein Manko aus meiner Hörposition?), die wunderbar glockig und leicht singende Servilia von Christina Gansch, der vokal deutlich aufgewertete – und aufhorchen lassende – Annio von Jeanine De Bique und der verlässlich präsente Publio des alten Bariton-Haudegens Willard White.
Nicht vergessen darf man ein spezielles Mozart-Merkmal des Permer Orchesters: die individuell agierenden Continuospieler, angeführt von Maria Shabashova am Hammerklavier, die mit stupender Fantasie aus jeder Ein-und Überleitung und Begleitung eine mit- und weiterdenkende eigene „Opernpartie“machen.
Für Marianne Crebassa gab es schon nach „Parto, parto“emotional ausbrechenden Sonderjubel. Ansonsten wurden, eigenwillig wie so vieles an diesem Abend, Solisten, Chor und Orchester ohne „Solovorhänge“als Kollektiv gefeiert. Nur kleineres Missfallensgegrummel traf das Regieteam. Aber am Erfolg dieser Premiere war nach dreieinhalb Stunden nicht zu zweifeln.