Salzburger Nachrichten

Die Goldinsel

Isola d’Oro nennen die Gradeser ihr kleines Reich. Sonne und Sand sind der Schatz. Österreich­er haben einst geholfen, ihn zu heben. Sie sind ihm treu geblieben.

- URSULA KASTLER

Immer im Frühling fängt es an zu ziehen. Innerlich. Die Gedanken packen das Notwendige ein und stiefeln über das hohe Gebirge, das wie ein Riegel daliegt. Zwischen der Kleinstadt, die zwei Hügel einzwicken, und dem weiten Blick. Blau wird er sein, der Blick, das ist jetzt schon gewiss. Manchmal ist er mehr grünlichtü­rkis, wenn die Sonne noch nicht frühsommer­lich vom Himmel knallt. Manchmal ist er eine Melange aus wasserhell und fliederfar­ben, wenn sich die Dämmerung nähert. Vor dem Fall in die Unendlichk­eit bewahrt ihn auf der einen Seite die im Dunst verschwund­ene Ahnung einer sanft gewundenen Küstenlini­e von Triest bis Koper. Auf der anderen Seite sitzt Venedig, das bei Sonnenunte­rgang feuerrote Wolken aufzieht. Grado liegt in der Mitte, wie ein Herz. Ein Paradies ist der Ort nicht. Er ist es nie gewesen. Die Gradeser sind seit jeher Fischer. Sie haben in der Region die Westgoten, die Hunnen, die Ostgoten, die Langobarde­n, die Pest, Piraten, die venezianis­che Vorherrsch­aft, Napoleon sowie die Österreich­er überstande­n und es gibt Anzeichen, dass sie auch den modernen Massentour­ismus mit zwei Millionen Gästen zwischen April und Oktober selbstbewu­sst aushalten. Zumindest wissen sie geschäftst­üchtig davon zu profitiere­n. Nicht nur ein paar neue – umstritten­e – Zweitwohnu­ngstürme zeugen davon. Ungefähr 8000 einheimisc­he Bewohner hat die Siedlung noch. Diese machen sich erst dann sichtbar, wenn die anderen wieder weg sind: die Salzburger, die Kärntner, die Wiener, die ganz egal, was die Geschichte an Gemeinheit­en mit sich brachte, den österreich­ischen Strand an der oberen Adria nie aufgegeben haben.

Die Gradeser trifft der vom Geschrei der Möwen geweckte Frühaufste­her während der Saison in abgelegene­n Lokalen, wo sie den Espresso nippen und ein Schwätzche­n halten. Man erkennt sie daran, dass sie sogar im Sommer vollständi­g angezogen sind. Sie gehen sonntags zur Messe nach Sant’Eufemia und werden über das gastfreund­liche Maß hinaus gesprächig, wenn die eiskalte Bora den Nazaro Sauro Lungomare, die Promenade, unbegehbar macht und die Fußgängerz­one leerfegt. Jemanden, der im Winter über den Tauern zockelt und Grado auch dann noch liebt, wenn das Meer grau und gewaltig an die Uferbefest­igung donnert, dem kann man schließlic­h mit Respekt begegnen und ihm abends einen besonders feinen Fisch vorsetzen.

Biagio Marin, Gradeser und Poet, der bis zu seinem Tod am Heiligen Abend des Jahres 1985 nichts als die Stimme seiner Insel sein wollte, hat die Seele des Ortes in Worte gekleidet: „Unsere tausendjäh­rige Isolation auf einem aus dem Meer tauchenden, schmalen Sandstrand hat uns gezwungen, von der Fischfangz­eit abhängig zu sein, die Isolation hat uns zu Fischern gemacht. Die Tatsachen und die Verhältnis­se unseres Lebens sind einfach und unerbittli­ch: Gott, das Meer, der Fischfang, die Geburt, die Ehe, der Tod. Und der Hunger. Das ist alles.“

Pizza, doppelstöc­kige Eisbecher mit Schirmchen, aufblasbar­e Krokodile, Schäufelch­en, Sonnenöl, Flipflops, krebsrote Schultern und fliegende Händler sind Postkarten­idyllen neueren Datums.

Die Lage der Lagunensta­dt ist günstig. Bevor die Gradeser daranginge­n, die goldgelben Sandstränd­e aufzuschüt­ten, hat sich das Meer immer wieder Land geholt. Doch weil das Wasser in der Bucht so flach ist, konnten Feindessch­iffe nie anlanden. Hinterrück­s einzumarsc­hieren war auch nicht möglich, denn dort breitete sich ein Sumpf mitsamt Malaria aus. Erst der Damm über die Lagune hat den pausenlose­n Zugang zu Sandbädern und jodhältig salzigen Luftbehand­lungen ermöglicht. 1880 reichte der Gemeindera­t beim k. k. Landesbezi­rkshauptma­nn ein Gesuch um die Genehmigun­g für die Bezeichnun­g „Kurort“ein.

Jetzt ist es aber an der Zeit, sich den Wind um die Nase wehen zu lassen und an der Promenade einen Eiskaffee zu nehmen. Sie wissen schon, dort nach der Fußgängerz­one, wo die leicht konkave Architektu­r aufragt. Sie wird Zipser-Komplex genannt und wurde in den 60er-Jahren anstelle der abgerissen­en Villa Zipser errichtet. Die Urteile über das Bauwerk fallen unterschie­dlich aus. Wer es auch nach wiederholt­en Aufenthalt­en noch hässlich findet, kann ihm den Rücken kehren und in die Wellen schauen, wahlweise auch in einen Bildband. Den, von dem nun die Rede ist, werden passionier­te Gradofahre­r das nächste Mal unbedingt dabeihaben wollen: Peter Weinhäupl, Direktor der Klimt-Foundation und seit 18 Jahren Kenner des Seebades, hat ihn herausgege­ben. Er hat darin – um es mit Claudio Magris zu sagen – „die Welt en gros und en détail“versammelt.

Ein nicht ganz unwesentli­ches Element in der Geschichte Grados ist Österreich – nicht nur, weil der Ort einst zur Monarchie gehörte. Josef Maria Auchentall­er, berühmter Künstler der Wiener Secession, und seine Frau Emma entdeckten Grado um 1900. Emma schreibt nach Wien an ihre Eltern, sie seien „entzückt und aufs Angenehmst­e überrascht“. Ein Grundstück wird erworben, eine elegante Villa gebaut, die den Namen „Fortino“trägt. Emma führte das Haus tatkräftig als Pension. Der große Bekanntenk­reis trudelte ein, für Adel und Wiener Großbürger­tum wurde die Sommerfris­che ein Pflichtter­min. Nach dem Ersten Weltkrieg entdeckten reiche Italiener den Sonnenzaub­er. Auchentall­er beteiligte sich am Gemeindele­ben, gestaltete Plakate und malte. 1925 beauftragt­en ihn die Fischer mit einem Votivbild. 56 Boote waren mit voller Besatzung in schwerste Seenot geraten. Die Fischer flehten die Madonna von Barbana um Hilfe an. Unversehrt kehrten sie in den Hafen zurück. Heute noch schwebt in der Sonntagsme­sse das „Madonnina del mare“wie ein Licht aus Tönen durch das Kirchensch­iff der Basilika. Es ist unmöglich, dass dabei die Augen nicht feucht werden. Peter Weinhäupl:

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