Erlösung kommt kurz vor Mitternacht
Der so unnahbare Ausnahmepianist Grigory Sokolov ließ Mozart erblühen und Beethovens Arietta ernüchtern.
SALLZBURG. Er tritt auf, ungerührt und starren Blicks. Drei Stunden später tritt er wieder ab, ungerührt und starren Blicks. Was sich dazwischen abspielt, lässt sich aus seinem Gesicht nicht ablesen. Grigory Sokolov ist kein Performer. In der Ära des sozial-medial befeuerten Mitteilungswahns wirkt der Pianist wie ein aus der Zeit gefallenes Medium, durch das Musik hindurchfließt. Da bleibt keine Zeit für Gesten, Mimik, Äußerlichkeiten.
Die Interpretation steht im Vordergrund. Und die ist meistens radikal. Das war sie auch am Dienstagabend. Beethovens Arietta aus der Klaviersonate in c-Moll op. 111 würde Raum bieten für metaphysische Exkurse, interstellare Erkundungen. Grigory Sokolov wählte den ungewöhnlichsten Weg. Nüchtern, fast farblos gestaltete er weite Teile dieses Satzes. Bewusst grob meißelte er die „swingende“Variation aus dem Steinway, selbst die Trillersequenz erklang in äußerster Klarheit, jedes Einzelteil kontrolliert. Keine emotional berührende Erlösung bot diese Arietta, bis zum Schluss nicht. Der Russe schien hier eins mit dem Eisernen Vorhang im Großen Festspielhaus.
Das Klangwunder, zu dem Sokolov kraft seines unglaublich differenzierten Anschlags, seiner akribischen Vorarbeit an den Werken und am Werkzeug Steinway fähig ist, kam an anderer Stelle. Im ersten Teil des wie immer ausverkauften Festspielkonzerts, einem pausenlosen Mozart-Block, zielte sein Interesse auf einen Satz hin: das Adagio aus der c-Moll-Sonate, KV 457. Wie er diese Melodie dehnte, aus der Zeit riss wie ein endloses Rezitativ, wie er daraus fein nuancierte Duette zwischen den Stimmen spann und zarte Bezüge zu Schubertscher Naturromantik und der Ariosität des Belcanto schuf: atemberaubend! Jede Wendung wurde hier in neues Licht getaucht, jede Tonfolge schuf wohlgeformt Räume für das Folgende.
Solch Konturenschärfe, solch Gestaltungskunst ist nur möglich, wenn anderswo Distanz waltet. Das gilt für den Kopfsatz der c-Moll-Sonate, dessen sachliche Rastlosigkeit erst den Weg frei machte für die blühenden Klanglandschaften danach. In Sokolovs Dramaturgie wirkt nichts wie zufällig, auch nicht die noch zusätzlich entschleunigte Adagio-Klammer in der c-Moll-Fantasie, KV 475, zuvor. Sokolov verschmolz die Düsternis der beiden Schwesterwerke mit der leuchtenden Leichtigkeit der einleitenden C-Dur-Sonate, KV 545. Wie abwechslungsreich kann diese „Sonata facile“klingen, wenn man wirklich jeden Triller unterschiedlich formt, jede Wiederholung zur eigenen Episode gestaltet. Und auch für Beethovens e-Moll-Sonate, op. 90, fand Sokolov den richtigen Ton, bettete dieses lyrische Werk watteweich und zog die Dramatik einzig aus dem zwingenden Fluss der wechselnden Begleitfiguren.
Die Erlösung, die Sokolov in der finalen Arietta verwehrte, brachte der traditionell ausufernde Zugabenteil. Angefangen mit Schuberts erstem „Moment musical“über zwei Chopin-Nocturnes bis hin zu Schumanns Arabeske ließ Sokolov den Steinway singen, formte jede Miniatur auch nach fast drei Stunden. Und fand den logischen Abschluss dieses Konzertabends in cMoll wenige Minuten vor Mitternacht: Chopins c-Moll-Prélude, dessen Lamento sich entfernte wie die Tränen der Geliebten im abfahrenden Zug.