Salzburger Nachrichten

Ein Fest der Stimmen betört

Die Salzburger Festspiele schickten vierzehn Schauspiel­er auf einen wundersame­n Marathon.

- Roland Koch Robert Musil, Schriftste­ller Peter Lohmeyer Robert Musil, Schriftste­ller

Es war fast halb zwei Uhr früh, und noch immer saß Publikum im Landesthea­ter. Da machte der Schauspiel­er Peter Lohmeyer, der im „Jedermann“den Tod spielt, etwas Ungewöhnli­ches: Er erhob sich vom Lesetischc­hen auf der Bühne und sprach in das in sonderbare Trance – eine Mischung aus stiller Mattigkeit und betörender Konzentrat­ion – verfallene Publikum: „Ich danke Ihnen fürs Kommen, denn im Endeffekt sind wir Geschichte­nerzähler. Wir brauchen Menschen, die uns zuhören.“

So ungewöhnli­ch wie das Ende war diese Vorstellun­g der Salzburger Festspiele. Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaf­ten“wurde über sechs Stunden lang in einer von Schauspiel­chefin Bettina Hering eingericht­eten Fassung vorgetrage­n. Pausen gab es nur in jener Kürze, die zwei Lesende brauchen, um den Platz am Lesetischc­hen zu wechseln. Folglich konnten die Zuschauer nach Belieben den Raum verlassen oder wiederkehr­en.

Was für ein hinreißend­es Festspielf­ormat bekam dieser Abend! Bettina Hering brachte damit das in Salzburg traditions­reiche, doch in jüngster Zeit stiefmütte­rlich behandelte Genre der Rezitation wieder zum Brillieren. Sie bot die Bandbreite des nur zur Festspielz­eit in Salzburg präsenten, durchwegs stupenden schauspiel­erischen Könnens auf – wenigstens zum Teil, denn auch Buhlschaft Stefanie Reinsperge­r, Lina Beckmann aus „Rose Bernd“oder Edith Clever, heuer Jedermanns Mutter, wären auf diesem Parcours der Festspiels­timmen willkommen gewesen.

Schauspiel­er aus verschiede­nen Theaterens­embles kamen ebenso zu Wort wie Bekannte aus Kinooder Fernsehfil­men. Alle haben Salzburger Festspiele­rfahrung: Gut die Hälfte der vierzehn Schauspiel­erinnen und Schauspiel­er entsprang der heurigen „Jedermann“Besetzung. Oder: Christian Friedel, der in Michael Hanekes „Das weiße Band“mitgespiel­t hat, wird am 21. August mit der Performanc­e „William – Woods of Birnam & William Shakespear­e“bei den Salzburger Festspiele­n auftreten.

Roland Koch, der in Harold Pinters „Geburtstag­sfeier“spielt, begann das Stimmenfes­t an diesem schönen Salzburger Augusttag kurz nach 19 Uhr mit dem legendären ersten Musil’schen Satz: „Über dem Atlantik befand sich ein barometris­ches Minimum; es wanderte ostwärts einem über Rußland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweich­en. (…) Mit einem Wort, das das Tatsächlic­he recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913.“

Musils essayistis­cher, unvollende­ter Roman schildert eine Randzeit, in der eine Patina bereits den Zeitgeist verdeckt und das Neue vielgestal­tig in die Gegenwart ragt. Zeitliche Leinwand Musils ist die untergehen­de Donaumonar­chie. In drei Teilen und 180 Kapiteln schildert der Erzähler – teils autobiogra­fisch – die verschiede­nen Gesellscha­ftskreise Wiens der Vorkriegsz­eit. An Musils Sprache frappiert die Exaktheit, mit der er psychologi­sche Binnensich­t und atmosphäri­sch dichte Schilderun­g des Außen miteinande­r verquickt.

Wie viele Stimmen hat ein Buch? Was macht eine derartige Polyfonie mit Hörern? Im etwa Halbstunde­ntakt wechselten die Lesenden und mit ihnen Stimme und Tonfall, ja die Temperatur des Abends. Es erstaunte, wie sehr Inhalt und Wirkung vom Interprete­n abhängen! Stil ist nach Bekunden Robert Musils „eine exakte Herausarbe­itung eines Gedankens“. Wie mannigfalt­ig sich eine solche Schnitzarb­eit vollziehen lässt, führten die Rezitieren­den beeindruck­end vor.

Unter ihnen gab es kantenrein­e Handwerker wie Philipp Hauß, der in „Lulu“mitspielen wird, Christian Friedl oder Roland Koch. Da saß jede Betonung, und es herrschte eine Balance zwischen persönlich­er und textlicher Präsenz.

Bei anderen wie Johannes Silberschn­eider, Sigrid Maria Schnückel oder Peter Lohmeyer stand leidenscha­ftlich die eigene Note im Vordergrun­d. Sie machten sich den Text durch entschloss­ene Interpreta­tion zu eigen.

Dann gab es die Leisen wie Hannes Flaschberg­er und Stephan Kreiss, die den Worten des Dichters die Bühne überließen. Sie ließen ebenmäßig und ruhig jenen Faden des Erzählens vorübergle­iten, über den Musil – wie Hannes Flaschberg­er vortrug – geschriebe­n hatte: „… fiel ihm ein, daß das Gesetz dieses Lebens, nach dem man sich, überlastet und von Einfalt träumend, sehnt, kein anderes sei als das der erzähleris­chen Ordnung! (…) Es ist die einfache Reihenfolg­e, die Abbildung der überwältig­enden Mannigfalt­igkeit des Lebens in einer eindimensi­onalen, wie ein Mathematik­er sagen würde, was uns beruhigt; die Aufreihung alles dessen, was in Raum und Zeit geschehen ist, auf einen Faden, eben jenen berühmten ,Faden der Erzählung‘, aus dem nun also auch der Lebensfade­n besteht.“

Der flämische Akzent Benny Claessens, der mit Regisseur Johan Simons an die Münchner Kammerspie­le gegangen war und in Salzburg in „Lulu“spielt, sowie sein charmant holpriger Vortrag amüsierten auf komödianti­sche Weise.

Für das Publikum ergab das ein unterhalts­ames Wechselbad. Immer wieder wurde das Ohr mit dem Einstellen auf einen anderen Interprete­n aufgeweckt. Es galt, sich einzuhören und auf neuem Weg Musil zu folgen. Zeitweilig vermisste man den vorherigen Interprete­n noch ein Weilchen oder wünschte sich ungeduldig den nächsten.

Die Stimmen und Persönlich­keiten kamen an diesem Abend auch daher anders als sonst zur Geltung, da Kostüme fehlten. Die Schauspiel­er kamen in ziviler Kleidung, die so unterschie­dlich war wie ihre Leseart: von Abendkleid bei Mavie Hörbiger bis schlabberi­ges T-Shirt und Frottee-Handtuch bei Gregor Bloéb – er hatte zuvor auf der Perner-Insel in „Rose Bernd“gespielt. Die Musil’sche „Abbildung der überwältig­enden Mannigfalt­igkeit auf einen einzelnen Faden“erfüllte der Marathon auf wundersame Weise.

„Es ist die einfache Reihenfolg­e (...), die uns beruhigt.“ „Über dem Atlantik befand sich ein barometris­ches Minimum.“

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BILD: SN/SF/ANDREAS KOLARIK
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BILD: SN/SF/REINHARD WERNER Philipp Hauß
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BILD: SN/SF/GERD NEUHOLD J. Silberschn­eider
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BILD: SN/SF/IRINA GAVRICH Mavie Hörbiger
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BILD: SN/SF/R. M. WERNER

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