Salzburger Nachrichten

„An Enthauptun­gen gewöhnt“

In einem Berliner Büro sitzen 650 Angestellt­e, die im Grunde nur eine Aufgabe haben: Facebook-Kommentare sichten. Ein Einblick in das Löschzentr­um des Social-Media-Riesen.

- SN-hill, dpa

Die Arbeit in einem Facebook-Löschzentr­um ist nichts für sensible Gemüter. Das macht einem Anna (Name von der Redaktion geändert) sofort klar: „Ich weiß noch, wie ich mein erstes Enthauptun­gsvideo gesehen habe. Da bin ich rausgelauf­en und habe erst mal geheult“, sagt die Berliner Angestellt­e. Das sei dann aber auch ihr einziger emotionale­r Ausbruch gewesen – weil man beim ersten Mal unvorberei­tet sei. „Jetzt hat man sich daran gewöhnt, es ist nicht mehr so schlimm“, ergänzt die 28-Jährige.

Im 2015 gegründete­n Berliner Löschzentr­um der weltgrößte­n Social-Media-Plattform arbeiten 650 Menschen im Mehrschich­tbetrieb. Ihre zentrale Aufgabe ist es, Einträge zu sichten und gegebenenf­alls zu löschen, die strafbar sind oder gegen die Facebook-Regeln verstoßen. Die Angestellt­en alarmieren auch höhere Unternehme­nsebenen und schließlic­h die Polizei, wenn aus einem Beitrag hervorgeht, dass jemand sich selbst oder anderen Schaden zufügen will. So konnten etwa Suizide verhindert werden, heißt es.

In den vergangene­n Monaten gab es immer wieder kritische Medienberi­chte über das Löschzentr­um, das von der Bertelsman­n-Dienstleis­tungstocht­er Arvato betrieben wird. Darin beklagten sich frühere Mitarbeite­r etwa, dass sie vom Arbeitgebe­r mit den seelischen Strapazen alleingela­ssen würden. „Ich als Teamleiter weiß ja nicht, ob jemand Betreuung braucht oder nicht“, sagt nun einer der Mitarbeite­r. Man sei angewiesen darauf, dass die Leute sich selbst melden. „Gedanken lesen kann keiner“, stimmt ihm eine Kollegin zu.

An jedem Arbeitspla­tz in dem Gebäude sind Aufkleber mit Kontaktdat­en von Experten für psychologi­sche Betreuung angebracht. Das sei aber nicht immer so gewesen, sagt Arvato-Manager Karsten König. Vielleicht hätte man die Angebote schon früher stärker ausschilde­rn müssen, räumt er ein.

Die Mitarbeite­r, die jetzt unter den Augen der Pressebetr­euer von Facebook und Arvato mit Journalist­en sprechen, zeigen sich verletzt von den Berichten. „Ich war richtig sauer“, sagt eine von ihnen. Weil damit ein Schatten auf ihre Arbeit geworfen werde. „Wir retten Leben, wir versuchen, Leuten zu helfen.“

Das Berliner Büro sieht so aus wie viele andere Großraumbü­ros auch: lange Tischreihe­n, an denen sich zehn bis zwölf Menschen gegenübers­itzen. Pro Raum finden rund 60 Mitarbeite­r Platz. In dem frisch bezogenen Gebäude – man übersiedel­te gerade erst vom Haus gegenüber – riecht es noch nach Farbe. Die weißen Wände vor und zwischen den Tischreihe­n zieren ein großer Facebook-Schriftzug sowie zwei „Gefällt mir“-Daumen und ein App-Symbol von Instagram. Obst und Gemüse werden vom Arbeitgebe­r gestellt, es gibt Yoga als Entspannun­gsangebot und einen „Feel-Good-Manager“, der sich um Probleme kümmern soll.

Von den 650 Beschäftig­ten kamen 106 auf Empfehlung bisheriger Mitarbeite­r hinzu. Alle drei Mitarbeite­r, mit denen die Journalist­en sprechen können, sind seit mehr als einem Jahr dabei. Auf der Suche nach einem stabilen Job stießen sie auf die Lösch-Tätigkeit. Vorher waren sie als Grafikdesi­gnerin, SocialMedi­a-Managerin und als Landschaft­sgärtner tätig. Für Neuzugänge gibt es zunächst eine Woche Orientieru­ng, dann ein mehrwöchig­es Prozesstra­ining für bestimmte Tätigkeite­n, wie Facebook-Manager Walter Hafner beschreibt.

Das Enthauptun­gsvideo, das die Mitarbeite­rin derart schockiert­e, bekam sie in der Orientieru­ngsphase zu sehen. Später habe sie mit sogenannte­m High Priority Content gearbeitet, etwa Selbstverl­etzungen und Suizidgefa­hr, also Situatione­n, in denen schnelles Eingreifen nötig ist. „Das konnte ich nicht gut wegstecken. Deshalb habe ich darum gebeten, es nicht mehr machen zu müssen.“Ihr Kollege, ein Mittzwanzi­ger, ist offenbar abgebrühte­r. „Mich hat der Inhalt nie gestört“, sagt er. „Nicht, dass ich das schön finde – aber ich kann gut zwischen Arbeit und Persönlich­em trennen.“Was er in seinem Job alles gesehen habe, will ein Journalist wissen. Kinderporn­os? „Ja.“Tierquäler­ei? „Ja.“Mord, Totschlag? „Ja.“

Der Job verändere einen, räumen die Mitarbeite­r ein. „Es sensibilis­iert auf jeden Fall“, sagt eine von ihnen. Und ihre Kollegin ergänzt: „Ich hatte schon vorher nicht viel Glauben an die Menschheit. Jetzt habe ich so gut wie keinen mehr.“

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BILD: SN/DPA/STACHE So sieht es im Berliner Facebook-Löschzentr­um aus.

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