Salzburger Nachrichten

„Probleme gibt es dann, wenn Kinder allein gelassen werden“

Eine Forscherin der Uni Salzburg hat die Mediennutz­ung sozial benachteil­igter Kinder zwölf Jahre lang beobachtet. Es ist die weltweit längste Erhebung dieser Art. Eine, die nachdenkli­ch stimmt.

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Ingrid Paus-Hasebrink bezeichnet die Studie als „eine Art Lebenswerk“. Die 64-jährige Kommunikat­ionswissen­schafterin hat zwölf Jahre lang 18 Familien aus Salzburg und Oberösterr­eich begleitet. Gemeinsam mit wechselnde­n Mitarbeite­rn hat sie die Rolle von Medien für Kinder zwischen ihrem fünften und 17. Lebensjahr beobachtet. Die Erhebung war derart sensibel, dass sogar die Namen von Hunden und Puppen anonymisie­rt wurden. Am Ende standen 1500 Seiten – und einige Erkenntnis­se, die etwa für Eltern nützlich sein können.

SN: Frau Paus-Hasebrink, bewusst provokant gefragt: Haben Kinder geringere Karrierech­ancen, wenn sie zu lange vor PC oder TV sitzen?

Ingrid Paus-Hasebrink: Das kann man pauschal nicht sagen. Denn entscheide­nd sind die Begleitfak­toren. In unserer Studie zeigt sich, dass alles davon abhängt, in welchem Umfeld ein Kind aufwächst. Vor allem die Lebensführ­ung der Familie ist das A und O. Geringes Einkommen oder Arbeitslos­igkeit, emotionale Konflikte – das alles ist sehr bedeutsam. Wenn sich die Familienve­rhältnisse ändern, wirkt sich das stark auf das Kind aus. Erich ist ein markanter Fall.

SN: Inwiefern?

Erichs Eltern haben sich früh getrennt. Es folgte eine Phase, in der er stark auf Medien zurückgewo­rfen war. Doch dann hat Erichs Mutter einen neuen Lebensgefä­hrten gefunden – ein Glücksfall. Durch den Stiefvater hat er ein neues männliches Vorbild bekommen.

SN: Konsumiert Erich nun gar keine Medien mehr?

Doch, sicher. Er nutzt Social Media, er sieht fern. Er pflegt nun aber einen bewusstere­n Umgang, eingebette­t in ein Leben, das man sich zu Anfang der Studie nicht einmal ansatzweis­e hätte erwarten können.

SN: Aber der Eindruck täuscht nicht: Kinder aus benachteil­igten

Familien nutzen Medien intensiv. Ja. Medien werden herangezog­en, um Langeweile zu überwinden, um den Alltag zu strukturie­ren, sie sind Ratgeber für tägliche Aufgaben.

SN: Ist der Schluss zu simpel: Wenn ich ums Überleben kämpfe, parke ich meine Kinder schon gerne mal vor dem Fernseher.

Es lässt sich feststelle­n, dass überforder­te Eltern bei der Erziehung dem Laissez-faire-Stil folgen. Dabei werden viele Ad-hoc-Entscheidu­ngen getroffen. Als die Kinder jünger waren, nutzten einige den Fernseher auch als Babysitter.

SN: Und das beeinfluss­t den Werdegang der Kinder, oder?

Nur zum Teil. So mächtig sind Medien doch nicht. Es hat sich gezeigt, dass sich die Mediennutz­ung an die lebenswelt­lichen Umstände anpasst – und nicht umgekehrt.

SN: Was für Medienprod­ukte werden in sozial benachteil­igten Familien stark genutzt?

Es ist auffällig, dass die Kinder in diesen Familien stark nach Helden suchen – wohl solche, die ihnen im Alltag fehlen. Zu Beginn unserer Studie war etwa „Dragon Ball Z“sehr beliebt, eine japanische Ani- meserie mit einem starken Helden. Aber es gab auch Heranwachs­ende, die sich Hermann Maier und in einem Fall sogar Jörg Haider als Helden auserkoren hatten. Als Jörg Haider gestorben ist, hat der betreffend­e Bub geweint.

SN: Gibt es so etwas wie „gute“und „schlechte“Medien?

Sicher gibt es Medien, die für Kinder mehr oder weniger geeignet sind. Aber entscheide­nd bleibt die elterliche Begleitung. Die Eltern sollten sich mit der Mediennutz­ung ihrer Kinder auseinande­rsetzen. Manchmal ist es auch eher die Dauer, die zu Problemen führen kann.

SN: Eine zeitliche Begrenzung ist also wichtig?

Freilich kann ein Stundenpla­n helfen. Primär braucht es aber Eltern, die spüren, was bei ihrem Kind los ist. Es gibt pädagogisc­he Fachkräfte, die aufschreie­n, wenn ein vierjährig­es Kind ein oder zwei Stunden am Tag Medien nutzt. Wenn diese Nutzung aber begleitet wird, muss das kein Problem sein. Das Problem ist immer jener Konsum, bei dem Kinder allein gelassen werden. Die Eltern müssen ihren Kindern auch nicht dauernd über die Schulter schauen. Sie müssen Vertrauen herstellen. Gespräche über Medien tragen dazu bei. SN: Aber dafür brauchen auch Eltern Medienkomp­etenz. Ich spreche in diesem Zusammenha­ng gar nicht mehr von Medienkomp­etenz, sondern von Alltagskom­petenz. Und ja, da braucht es auch sozialpäda­gogische Angebote – dringend sogar.

SN: Entsteht bei einer derartigen Studie nicht eine gewisse Bindung zu den Familien?

Ja, diese Art der Forschung ist ein Balanceakt zwischen Distanz und Mitgefühl. In zwei Fällen mussten wir sogar konkrete Hilfe vermitteln. In einem haben wir von Selbstmord­gedanken erfahren, in einem anderen von Magersucht. Und glauben Sie mir: Das geht einem nahe. Das bereits dritte Buch zur Studie „Zur Rolle von Medien in der Sozialisat­ion sozial benachteil­igter Heranwachs­ender“wird Ende 2017 erscheinen. Final waren neben Ingrid PausHasebr­ink (im Bild) Jasmin Kulterer, Andreas Oberlinner und Philip Sinner beteiligt.

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BILD: SN/FOTOLIA Welche Art der Mediennutz­ung ist für Kinder angemessen? Eine Salzburger Studie gibt Aufschluss.
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