In Afghanistan lebt eine Armee der Versehrten
Der Blutzoll unter den Soldaten ist für westliche Militärs schockierend.
Eigentlich hätte Abdul Manan, jüngst ausgemusterter Veteran des afghanischen Krieges, zum Mittagessen kommen sollen. Auf dem Tisch in einem beliebten Restaurant in Kabul stehen Kebab, KabuliReis und rote Bohnen. Aber Abdul Manan, der sich vorsichtig auf blaue Plastikpolster hat sinken lassen, das gelähmte Bein von sich gestreckt, schafft nur ein paar Löffel Hühnersuppe angedickt mit Maismehl. Seitdem er verletzt wurde, isst er weniger und weniger. „Ich war einmal ein starker Mann“, sagt er fast entschuldigend. Heute spannt die Haut über spitzen Wangenknochen, die Kleidung schlottert an den linealgeraden Linien seines Körpers herunter.
Manan war 34 Jahre Soldat, zuletzt Dagarman, also Oberstabsfeldwebel, als er im vergangenen Jahr in Baghlan, Nordafghanistan, mit einem Nachschubkonvoi in schwere Gefechte hineinfuhr. Dort trafen ihn mehrere Kugeln in den unteren Rücken und den rechten Oberschenkel. Wichtige Aufgaben habe man ihm anvertraut, sagt Manan, ein Berater der Kommandeure sei er gewesen. Manan ist erst 55, aber er verbringt die meisten seiner Tage nur noch zu Hause. „Und keiner der Kommandeure, die mir früher ihr Leben anvertraut haben, hat sich bei mir gemeldet“, sagt er.
Der Krieg mit den Taliban, der sich seit Ende der NATO-Kampfmission 2014 rasant verschärft, frisst afghanische Soldaten und Polizisten in einem Ausmaß, das westliche Militärs schockierend nennen. Allein in den ersten vier Monaten dieses Jahres wurden 2531 Mitglieder der Sicherheitskräfte getötet und 4238 verletzt, wie es in einem am Dienstag veröffentlichten US-Bericht heißt.
Im Jahr 2016 waren es rund 7000 Tote und rund 12.000 Verletzte – in einem Jahr ein Vielfaches aller Opfer aller internationalen Streitkräfte seit Beginn ihres Afghanistan-Einsatzes im Jahr 2001.
Die USA, die Zehntausende Soldaten in Afghanistan hatten, betreiben um die Rückkehrer aus diesem und anderen Kriegen und besonders die Versehrten großen Aufwand.
Veteranen müssen sich selbst helfen
Es gibt ein Ministerium für sie. Einen Veteranentag, an dem sie gefeiert werden. Es gibt Dienststellen, die helfen, Arbeit zu finden, es gibt Sozialarbeiter und Therapeuten von Physio bis Psycho. In Afghanistan gibt es kaum etwas von alledem. Im größten Militärspital des Landes in Kabul ist das aus der Nähe zu besichtigen. Bei dem Besuch Ende Juli geht der Chefpfleger, ein Herr mit blauer Mütze und freundlichen Augen, an einer Krücke. Ein Arzt in der Intensivstation humpelt. Im April hatten IS-Kämpfer die Klinik angegriffen. Hatten sieben Stunden lang auf Patienten in ihren Betten geschossen und mit Handgranaten um sich geworfen. Der Chefpfleger war aus Angst aus dem dritten Stock gesprungen. Niemand hier hat psychologische Hilfe bekommen.
Alles, was nach der Klinik kommt für die Patienten – das Überleben als an Körper und Seele versehrter Mensch –, ist nur noch Privatsache. Pflegeheime gibt es nicht. Die Familie ist das Kernhilfssystem in der Gesellschaft, aber Familien sind oft überfordert mit den Folgen dieses abermaligen Krieges. „Manchmal können die Versehrten nicht einmal mehr nach Hause, weil dort schon die Taliban sind, die an den Verletzungen sofort erkennen, wenn jemand gegen sie gekämpft hat“, sagt der Chef der Orthopädie, Aschraf Achmadsai. „Sie würden sie töten.“
Versehrte Veteranen bekommen zwar weiter ihr volles Gehalt, das oft zwischen 150 und 220 Euro liegt. Doch bei Gesprächen mit Mitarbeitern der Ministerialabteilungen für „Märtyrer“und „Behinderte“werden die Probleme im Detail deutlich. Zum Beispiel: Ärzte in den Militärkliniken verschreiben Behandlungen, die in Afghanistan nicht machbar sind – und im Sozialministerium müssen sie den Versehrten sagen, dass für eine Reise ins Ausland kein Geld da ist. Abdul Manan, der alte Soldat, hat sein Land verkaufen müssen, um eine weitere Operation in Indien zu bekommen.
Prothesen sind auch ein Streitpunkt. „Manche mögen unsere Notprothesen nicht“, sagt Humajun Sajak, einer der Abteilungsleiter. Sie sind zu schwer und schmerzen an den Stümpfen. „Aber die besseren sind zu teuer für uns.“