Flanieren auf der Autobahn
Am Sandstrand von Paris. Ein aufsehenerregendes Projekt in der französischen Hauptstadt wurde zum Symbol für eine europaweite Trendumkehr in der Stadtplanung.
Es ist Hochsommer, die Hitze hat die Großstadt Paris fest im Griff. Doch unten an der Seine weht eine angenehm kühle Brise. Über die gesperrte Uferautobahn wälzen sich an diesem Tag keine Autos, sondern wandern Spaziergänger aller Altersstufen, Mütter und Väter mit Kinderwagen, Radfahrer und Rollerskater. Auf Rasenflächen und Böschungen wurde Sand aufgeschüttet. Dort – zwischen Palmen und anderen exotischen Topfpflanzen – liegen Einheimische und Touristen in Liegestühlen und sonnen sich. Der eine oder die andere hat ein Buch in der Hand. Es stammt aus der Freiluftbibliothek, die gerade eröffnet wurde. Wer sich lieber körperlich betätigen will, spielt Boule oder Beachvolleyball. Oder man steigt selbst in eines der Ruderboote, die stetig an den Kaimauern vorübergleiten.
Wer sich danach abkühlen will, der kann auf einem Badeschiff in einen Pool springen oder durch einen Sprühnebel laufen, der von sogenannten Wasserzerstäubern produziert wird. Es wird viel konsumiert. Die Strandcafés sind voll. Das meiste, das angeboten wird, ist gratis – auch die vielen Konzerte und die betreuten Aktivitäten für Kinder. Sollte irgendwann das Wasser der Seine so sauber sein, dass man wieder mitten in der Metropole im Fluss baden kann, wird sich niemand mehr gezwungen sehen, die Stadt zu verlassen, um der Sommerhitze zu entfliehen.
Diese etwas utopisch anmutende Szenerie ist seit 2002 Realität. Es handelt sich um die Ferienaktion Paris-Plages – Pariser Strände –, die vom ehemaligen Pariser Bürgermeister Bertrand Delanoë ins Leben gerufen wurde. Für den Juli und August wird im zentralen Bereich der Stadt die Uferschnellstraße George Pompidou gesperrt und in eine Fußgängerzone verwandelt. Bis zu drei Millionen Besucher lockt das Sommerfestival alljährlich ans Ufer der Seine. Diese Rückeroberung von Straßenraum hat auch symbolischen Charakter.
Stadtautobahnen sind Relikte einer Stadtplanung, die dem Auto eine zentrale Rolle zugewiesen hat. Auch wenn schon lange kein Bürgermeister oder Staatspräsident mit nach ihm benannten Schnellstraßen in die Geschichte eingehen will, plagen uns in den Städten weiterhin zunehmender Verkehr und damit verbundener Lärm und weiter zunehmende Feinstaubbelastung.
Gewarnt wurde ja schon früh. So ist es 50 Jahre her, dass der französisch-schweizerische Regisseur Jean-Luc Godard in seinem Film „Week End“ein apokalyptisches Szenario endloser Staus, fataler Unfälle und brennender Autowracks entwarf. Der Film war als Sinnbild für eine blinde und oft fehlgeleitete Fortschritts- und Technikgläubigkeit gedacht. Seither hat das Umdenken nur langsam eingesetzt. Es ist ein langer Abschied von der autogerechten Stadt, der europaweit in unterschiedlichen Geschwindigkeiten vollzogen wird.
Im vergangenen Herbst beschloss der Pariser Stadtrat unter der Führung der neuen Bürgermeisterin Anne Hidalgo, das sommerliche Experiment an der Seine auf Dauer zu stellen – und das ausgerechnet parallel zur Eröffnung der alljährlichen Automesse. Die Uferstraße soll nun im Herzen der Stadt auf einer Länge von 3,5 Kilometern geschlossen und in eine Fußgängerzone umgewandelt werden, und das trotz teils heftigen Widerstands durch die Opposition und durch diverse Autofahrerverbände. Denn die Sperrung, so argumentieren die Kritiker, würde nur zur Verlagerung des Verkehrs – immerhin rund 40.000 Autos pro Tag – führen und anderswo Staus zur Folge haben. Vor allem den zahlreichen Pendlern, die vom Auto abhängig sind, wäre so der Zugang zu Stadt und Arbeitsplatz erschwert.
Doch die Bürgermeisterin legte sogar noch nach. Nach ihren Plänen soll ab 2020 der Gebrauch von Dieselautos, die im hohen Maß zur Luftverschmutzung beitragen, im gesamten Stadtgebiet verboten werden. Die streitbare Politikerin skizzierte auch ein Wunschbild, dessen Suggestivkraft sich auch ihre Kritiker nur schwer entziehen können: Spätestens 2024, also in dem Jahr, für das sich die Stadt Paris für die Olympischen Sommerspiele bewirbt, soll man wieder in der Seine baden können. Es ist ein symbolträchtiges Datum, hatte doch 1923, hundert Jahre zuvor, die Verschmutzung der Seine erstmals einen Grad erreicht, dass ein allgemeines Schwimmverbot erlassen werden musste. Schon Jacques Chirac hatte 1988 ein ähnlich lautendes Versprechen abgegeben, konnte dieses aber während seiner Amtszeit als Pariser Bürgermeister nicht einlösen.
Der Trend zum Perspektivenwechsel, weg vom Auto und hin zur langsamen Mobilität, lässt sich längst nicht nur in der französischen Metropole beobachten. Insbesondere skandinavische Großstädte haben eine Vorreiterrolle eingenommen. So kündigte etwa die Stadtregierung in Oslo an, das Zentrum der norwegischen Metropole bis 2019 weitgehend zur autofreien Zone machen zu wollen. Helsinki wiederum setzt auf einen Ausbau des öffentlichen Verkehrsnetzes, der ermöglichen soll, dass jeder beliebige Punkt der Großstadt leicht ohne Auto erreicht werden kann. Auch einige Automobilhersteller haben längst begonnen, sich Gedanken zur zukünftigen „Post-Oil City“, die auf Benzin und Diesel verzichten muss, zu machen. Heute schon betreibt BMW in Kopenhagen 400 Leihautos im Elektrobetrieb. In Norwegen, so liest man, soll bald jeder zweite zugelassene Neuwagen elektrisch betrieben sein.
Wie sieht es hierzulande aus? In Salzburg wurde der Modellversuch im Jahr 2003, zwischen Mitte Juli und Mitte August die Altstadt in den Mittagsstunden für den Durchzugsverkehr zu sperren, nach heftigen Diskussionen wieder aufgegeben. In der Geschichte Wiens wiederum gab es oft erfolgreiche Widerstände gegen eine drohende Dominanz des privaten Automobils. Nach Protesten wurde 1972 das Projekt für eine Donaukanal-Autobahn wieder fallen gelassen. Auch die einst geplante WientalAutobahn wurde – zum Vorteil der Bewohner – nie realisiert. In jüngster Zeit hat die Umwandlung des zentralen Abschnitts der Mariahilfer Straße in eine Fußgängerzone gezeigt, wie sehr die Einschränkung der Automobilität noch immer zu einer stark polarisierten Diskussion führen kann. Daran lässt sich ablesen, dass eine schrittweise Rückeroberung von Straßenraum durch Fußgänger und Radfahrer auch zu neu gestellten, grundsätzlichen Fragen führen kann: Wem gehört die Stadt? Was kann und soll der öffentliche Raum der Stadt, abseits rein kommerzieller Interessen, für die Bürger im 21. Jahrhundert noch leisten? Es sind Fragen, die beantwortet werden müssen, sollte das 21. Jahrhundert wieder ein Zeitalter der Flaneure und Spaziergänger werden.