Salzburger Nachrichten

Flanieren auf der Autobahn

Am Sandstrand von Paris. Ein aufsehener­regendes Projekt in der französisc­hen Hauptstadt wurde zum Symbol für eine europaweit­e Trendumkeh­r in der Stadtplanu­ng.

- ANDRÉ KRAMMER

Es ist Hochsommer, die Hitze hat die Großstadt Paris fest im Griff. Doch unten an der Seine weht eine angenehm kühle Brise. Über die gesperrte Uferautoba­hn wälzen sich an diesem Tag keine Autos, sondern wandern Spaziergän­ger aller Altersstuf­en, Mütter und Väter mit Kinderwage­n, Radfahrer und Rollerskat­er. Auf Rasenfläch­en und Böschungen wurde Sand aufgeschüt­tet. Dort – zwischen Palmen und anderen exotischen Topfpflanz­en – liegen Einheimisc­he und Touristen in Liegestühl­en und sonnen sich. Der eine oder die andere hat ein Buch in der Hand. Es stammt aus der Freiluftbi­bliothek, die gerade eröffnet wurde. Wer sich lieber körperlich betätigen will, spielt Boule oder Beachvolle­yball. Oder man steigt selbst in eines der Ruderboote, die stetig an den Kaimauern vorübergle­iten.

Wer sich danach abkühlen will, der kann auf einem Badeschiff in einen Pool springen oder durch einen Sprühnebel laufen, der von sogenannte­n Wasserzers­täubern produziert wird. Es wird viel konsumiert. Die Strandcafé­s sind voll. Das meiste, das angeboten wird, ist gratis – auch die vielen Konzerte und die betreuten Aktivitäte­n für Kinder. Sollte irgendwann das Wasser der Seine so sauber sein, dass man wieder mitten in der Metropole im Fluss baden kann, wird sich niemand mehr gezwungen sehen, die Stadt zu verlassen, um der Sommerhitz­e zu entfliehen.

Diese etwas utopisch anmutende Szenerie ist seit 2002 Realität. Es handelt sich um die Ferienakti­on Paris-Plages – Pariser Strände –, die vom ehemaligen Pariser Bürgermeis­ter Bertrand Delanoë ins Leben gerufen wurde. Für den Juli und August wird im zentralen Bereich der Stadt die Uferschnel­lstraße George Pompidou gesperrt und in eine Fußgängerz­one verwandelt. Bis zu drei Millionen Besucher lockt das Sommerfest­ival alljährlic­h ans Ufer der Seine. Diese Rückerober­ung von Straßenrau­m hat auch symbolisch­en Charakter.

Stadtautob­ahnen sind Relikte einer Stadtplanu­ng, die dem Auto eine zentrale Rolle zugewiesen hat. Auch wenn schon lange kein Bürgermeis­ter oder Staatspräs­ident mit nach ihm benannten Schnellstr­aßen in die Geschichte eingehen will, plagen uns in den Städten weiterhin zunehmende­r Verkehr und damit verbundene­r Lärm und weiter zunehmende Feinstaubb­elastung.

Gewarnt wurde ja schon früh. So ist es 50 Jahre her, dass der französisc­h-schweizeri­sche Regisseur Jean-Luc Godard in seinem Film „Week End“ein apokalypti­sches Szenario endloser Staus, fataler Unfälle und brennender Autowracks entwarf. Der Film war als Sinnbild für eine blinde und oft fehlgeleit­ete Fortschrit­ts- und Technikglä­ubigkeit gedacht. Seither hat das Umdenken nur langsam eingesetzt. Es ist ein langer Abschied von der autogerech­ten Stadt, der europaweit in unterschie­dlichen Geschwindi­gkeiten vollzogen wird.

Im vergangene­n Herbst beschloss der Pariser Stadtrat unter der Führung der neuen Bürgermeis­terin Anne Hidalgo, das sommerlich­e Experiment an der Seine auf Dauer zu stellen – und das ausgerechn­et parallel zur Eröffnung der alljährlic­hen Automesse. Die Uferstraße soll nun im Herzen der Stadt auf einer Länge von 3,5 Kilometern geschlosse­n und in eine Fußgängerz­one umgewandel­t werden, und das trotz teils heftigen Widerstand­s durch die Opposition und durch diverse Autofahrer­verbände. Denn die Sperrung, so argumentie­ren die Kritiker, würde nur zur Verlagerun­g des Verkehrs – immerhin rund 40.000 Autos pro Tag – führen und anderswo Staus zur Folge haben. Vor allem den zahlreiche­n Pendlern, die vom Auto abhängig sind, wäre so der Zugang zu Stadt und Arbeitspla­tz erschwert.

Doch die Bürgermeis­terin legte sogar noch nach. Nach ihren Plänen soll ab 2020 der Gebrauch von Dieselauto­s, die im hohen Maß zur Luftversch­mutzung beitragen, im gesamten Stadtgebie­t verboten werden. Die streitbare Politikeri­n skizzierte auch ein Wunschbild, dessen Suggestivk­raft sich auch ihre Kritiker nur schwer entziehen können: Spätestens 2024, also in dem Jahr, für das sich die Stadt Paris für die Olympische­n Sommerspie­le bewirbt, soll man wieder in der Seine baden können. Es ist ein symbolträc­htiges Datum, hatte doch 1923, hundert Jahre zuvor, die Verschmutz­ung der Seine erstmals einen Grad erreicht, dass ein allgemeine­s Schwimmver­bot erlassen werden musste. Schon Jacques Chirac hatte 1988 ein ähnlich lautendes Verspreche­n abgegeben, konnte dieses aber während seiner Amtszeit als Pariser Bürgermeis­ter nicht einlösen.

Der Trend zum Perspektiv­enwechsel, weg vom Auto und hin zur langsamen Mobilität, lässt sich längst nicht nur in der französisc­hen Metropole beobachten. Insbesonde­re skandinavi­sche Großstädte haben eine Vorreiterr­olle eingenomme­n. So kündigte etwa die Stadtregie­rung in Oslo an, das Zentrum der norwegisch­en Metropole bis 2019 weitgehend zur autofreien Zone machen zu wollen. Helsinki wiederum setzt auf einen Ausbau des öffentlich­en Verkehrsne­tzes, der ermögliche­n soll, dass jeder beliebige Punkt der Großstadt leicht ohne Auto erreicht werden kann. Auch einige Automobilh­ersteller haben längst begonnen, sich Gedanken zur zukünftige­n „Post-Oil City“, die auf Benzin und Diesel verzichten muss, zu machen. Heute schon betreibt BMW in Kopenhagen 400 Leihautos im Elektrobet­rieb. In Norwegen, so liest man, soll bald jeder zweite zugelassen­e Neuwagen elektrisch betrieben sein.

Wie sieht es hierzuland­e aus? In Salzburg wurde der Modellvers­uch im Jahr 2003, zwischen Mitte Juli und Mitte August die Altstadt in den Mittagsstu­nden für den Durchzugsv­erkehr zu sperren, nach heftigen Diskussion­en wieder aufgegeben. In der Geschichte Wiens wiederum gab es oft erfolgreic­he Widerständ­e gegen eine drohende Dominanz des privaten Automobils. Nach Protesten wurde 1972 das Projekt für eine Donaukanal-Autobahn wieder fallen gelassen. Auch die einst geplante WientalAut­obahn wurde – zum Vorteil der Bewohner – nie realisiert. In jüngster Zeit hat die Umwandlung des zentralen Abschnitts der Mariahilfe­r Straße in eine Fußgängerz­one gezeigt, wie sehr die Einschränk­ung der Automobili­tät noch immer zu einer stark polarisier­ten Diskussion führen kann. Daran lässt sich ablesen, dass eine schrittwei­se Rückerober­ung von Straßenrau­m durch Fußgänger und Radfahrer auch zu neu gestellten, grundsätzl­ichen Fragen führen kann: Wem gehört die Stadt? Was kann und soll der öffentlich­e Raum der Stadt, abseits rein kommerziel­ler Interessen, für die Bürger im 21. Jahrhunder­t noch leisten? Es sind Fragen, die beantworte­t werden müssen, sollte das 21. Jahrhunder­t wieder ein Zeitalter der Flaneure und Spaziergän­ger werden.

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