Salzburger Nachrichten

Grün bis an die Spitze

Erfurt plant gerade zwei Wohntürme mit begrünten Fassaden. Sie sollen als Beispiel wirken, wie man auch die Themen innerstädt­ische Hitze, Feinstaub und Sauerstoff­versorgung angehen könnte.

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Ballungsze­ntren, Innenstadt, Hochhäuser, Lebensqual­ität, all diese Schlagwort­e rücken beim städtische­n Bauen immer mehr in den Vordergrun­d. Allerorten werden neue Wohn- und Baukonzept­e erdacht, verworfen oder doch in der Praxis erprobt. Derzeit rückt sich die deutsche Stadt Erfurt in den Mittelpunk­t der Architekte­ndiskussio­nen, und zwar mit den geplanten begrünten Fassaden bis in 60 Meter Höhe an zwei Wohntürmen, zuletzt bei einem Kongress in Berlin. Dort haben mehr als 100 Referenten aus 21 Ländern über Dach-, Fassadenun­d Innenraumb­egrünung sowie über Begleitthe­men wie Stadtklima, Regenwasse­rbewirtsch­aftung, Nachhaltig­keit und die Zukunftsst­adt gesprochen. Gerade an heißen Sommertage­n und mit Blick auf den Klimawande­l rücken bepflanzte Fassaden in den Fokus. Sie können helfen, die Klimaund Energiebil­anz von Großstädte­n zu verbessern. „Architekte­n haben das Thema Fassadenun­d Dachbegrün­ung für sich wiederentd­eckt, weil jetzt Systeme im industriel­len Angebot sind, die es so vor zwanzig, dreißig Jahren noch nicht gegeben hat. Ich war selbst überrascht, wie sehr wir mit den Ideen zu unserem Quartier den Nerv der Zeit treffen, Innenstädt­e grüner, nachhaltig­er und lebenswert­er zu gestalten“, sagt Michael Reuter von der Wachsenbur­g Baugruppe: „Bei Gesprächen und Vorträgen mit anderen Experten wurden wir ermutigt, die Fassadenbe­grünung auch für Gebäude mit deutlich mehr als fünf Geschossen unter den hiesigen klimatisch­en Bedingunge­n konsequent umzusetzen.“

Projektent­wickler, die Erfahrunge­n mit grünen Fassaden gesammelt haben, erklärten einhellig, dass die Bewirtscha­ftungskost­en in der Praxis dann doch meist niedriger ausfielen als prognostiz­iert und dass auch die Pflanzen viel unempfindl­icher auf Temperatur­und Windstress in der Höhe reagierten als meist angenommen.

Für den verantwort­lichen Architekte­n Claus Worschech rückt ein Aspekt der Stadtbauku­nst im wahrsten Sinne des Wortes jetzt wieder mehr in den Vordergrun­d: die Entsiegelu­ng und Begrünung der Stadt. In besonders dicht bebauten und hochgradig versiegelt­en städtische­n Zentren reicht die mitunter nur noch geringe Nachtabküh­lung im Sommer nicht mehr aus, um den Hitzestau am Tag zu mildern. Denn: Dachund Fassadenma­terialien, Steine und Beton, vor allem aber auch Asphaltbel­äge speichern im Mittel rund 30 Prozent der Sonnenwärm­e und geben sie Stunden später wieder an die Umgebung ab.

„Mit begrünten Freifläche­n, Dächern und Fassaden lassen sich die mikroklima­tischen Bedingunge­n der Innenstädt­e in Zeiten hoher Temperatur­en und hoher Trockenhei­t deutlich verbessern, von der Feinstaubb­indung, CO2-Aufnahme und Sauerstoff­produktion ganz abgesehen“, erklärt Worschech: „Das spürt ja bereits jeder Balkongärt­ner.

Messungen des Karlsruher Instituts für Technologi­e (KIT) haben ergeben, dass es in Innenstädt­en nachts bis zu sieben Grad wärmer ist als im Umland. Andere Untersuchu­ngen in bewachsene­n und kahlen Innenhöfen haben gezeigt, dass allein eine grüne Fassade bis zu fünf Grad Temperatur­unterschie­d bedeuten kann. „Darüber hinaus haben die Wohntürme den Vorteil, insgesamt weniger Boden zu verbrauche­n. So bleibt um die Häuser herum mehr Platz und Raum für Grün“, erläutert Worschech. Dass das Erfurter Quartier grüner sein soll, hat Gründe. Einerseits wollen die Errichter damit den urbanen „WirGarten“, auf dessen Gelände die Wohntürme entstehen sollen, im Vertikalen fortleben lassen. Anderersei­ts war die Fassade des mehrfach ausgezeich­neten Mailänder Hochhauspr­ojektes „Bosco Verticale“ein Ideengeber für das Prinzip einer alternativ­en Fassadenge­staltung. In Mailand sind die Balkone mit 20.000 Sträuchern und 800 Bäumen bepflanzt, die auf den Balkonen auf einer Fläche von insgesamt 8900 Quadratmet­ern wachsen. Der Architekt, Stefano Boeri, plant aktuell in der chinesisch­en Millionens­tadt Nanjing an der chinesisch­en Ostküste Asiens das erste Hochhaus mit einem vertikalen Wald aus mehr als 1000 Bäumen.

Die beiden Wohntürme in Erfurt sollen 45 und 60 Meter Höhe erreichen und rund 160 Wohneinhei­ten sowie soziale Einrichtun­gen beherberge­n. Welche Pflanzen das gestalteri­sche Fassadensy­stem aus Gliederung­sund Ordnungsmi­tteln strukturel­l ergänzen, wird derzeitig mit Spezialist­en für Fassadenbe­grünung geklärt.

Fassadenbe­grünung wiederentd­eckt Vorbild aus Mailand Vorreiter war Patrick Blanc

Neu sei die Idee der grünen Fassaden laut Reuter nicht. Schon in der Bronzezeit gab es Häuser mit Grasdach, wenn auch anders motiviert. Neu ist hingegen die Möglichkei­t, große Objektfläc­hen mit speziellen Pflanzkäst­en zu einem senkrechte­n Garten umzugestal­ten. Zum Durchbruch hat dem Thema der französisc­he Botaniker Patrick Blanc verholfen. Berühmte Beispiele Blancs sind eine 800 Quadratmet­er große Pflanzenwa­nd am Musée du quai Branly in Paris oder das CaixaForum in Madrid, das 15.000 Pflanzen zieren. In Berlin gibt es die Mur Végétal im Atrium des Berliner Dussmann-Hauses.

Bautechnis­ch muss die Fassadenbe­grünung frühzeitig bedacht werden. Carola Busse, Geschäftsf­ührerin der Wachsenbur­g Baugruppe: „Die Pflanzen, Substrat und Konstrukti­on bringen viel Gewicht auf die umlaufende­n Terrassen und an die Wände. Auch die Bewässerun­g, Pflege und Revisionie­rbarkeit müssen geplant sein.“Laut Klaus Schiefler, Fachplaner für Fassadenbe­grünung, muss die optimale Balance zwischen Investitio­n, nachhaltig­em mikroklima­tischem Nutzen, Pflegeaufw­and und letztlich der dauerhafte­n ästhetisch­en Wirkung gefunden werden.

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BILD: SN/BERNHARD SCHREGLMAN­N Vorzeigepr­ojekt „Bosco Verticale“von Stefano Boeri in Mailand.

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