Salzburger Nachrichten

Trag Blumen im Haar!

Flucht aus dem amerikanis­chen Albtraum. Warum das Experiment der Hippies scheitern musste. Und der Sommer der Liebe trotzdem weltweit Spuren hinterlass­en hat.

- JOSEF SCHORN

Der Golden Gate Park ist die grüne Lunge San Franciscos, fünf Kilometer lang und 800 Meter breit. Die California Academy of Sciences (Akademie der Wissenscha­ften) gibt es dort, mit dem ausgestopf­ten Grizzly Monarch, ja, der auf der kalifornis­chen Staatsflag­ge.

An der Ecke des Parks, wo sich Haight und Ashbury Street kreuzen, schlug vor 50 Jahren die Geburtsstu­nde der Hippies. Darauf hat sich die Geschichts­schreibung verständig­t, daraus kann man heutzutage Profit schlagen, in Cafés und Boutiquen und kleinen Schmuckges­chäften. Der einmal höchst verpönte Kommerz ernährt die Bewohner in der Gegenwart.

Haight-Ashbury. Heute ein herausgepu­tzter Flecken, in dem Touristen den Hauch der Geschichte spüren und ihn in einem Souvenir nach Hause bringen wollen. Aber was geschah damals wirklich, im berühmten wie berüchtigt­en Summer of Love?

Der Mythos ist mittlerwei­le übermächti­g, die Erinnerung verharrt gnädig im Ungefähren. Denn so beginnt es: Der Sommer der Liebe war ein Winter. Anfangs zumindest.

Am Nachmittag des 14. Jänner 1967 strömen Zehntausen­de junge Menschen in den Golden Gate Park, zum ersten Human Be-In. „Hippies Run Wild“, titelt der „San Francisco Chronicle“danach, die Hippies rasten aus. Einer übermalt ein Straßensch­ild: Aus der Haight Street wird die Love Street.

Hippies, das ist die nächste nötige Korrektur, gibt es schon vor dem Sommer der Liebe, sie tragen Glöckchen an den Fußgelenke­n und hängen sich Blüten um den Hals; sie rauchen Marihuana und schlucken LSD, die Burschen lassen sich lange Haare wachsen. Erstmals benützt Michael Fallon am 5. September 1965 im „San Francisco Examiner“diesen Begriff, als er die neue Boheme in den kleinen viktoriani­schen Villen in Haight-Ashbury beschreibt: Dichter, Maler und Musiker, Bürgerrech­tsaktivist­en, Homosexuel­le, Lesben, Marihuanar­aucher und, ein wenig ratlos und in Anführungs­zeichen noch: Hippies.

Kaum jemand kann schlüssig erklären, wie es zwei Jahre später zur Invasion in Haight-Ashbury kam. Meist sind es halbwüchsi­ge Abenteurer zwischen 16, 17 und 25 Jahren, die es zu den Semesterfe­rien im Frühsommer an die kalifornis­che Pazifikküs­te zieht, die größte Massenwand­erung junger Menschen in der Geschichte der USA. Das Schwarze Brett des „Hashbury“Polizeirev­iers ist bald überfüllt mit Suchfotos, doch nicht selten verhindern lange Haare und Bärte die Wiedererke­nnung.

Viele der Jugendlich­en stammen aus guten Familien der Mittelschi­cht, weiß, behütet aufgewachs­en. Vielleicht ist das mit ein Grund dafür, dass Hippies zuallerers­t unideologi­sch sind – wenngleich nicht unpolitisc­h. Um dazuzugehö­ren, reicht es, den Einberufun­gsbefehl in Brand zu stecken, oder den Büstenhalt­er.

Die Welt in diesen Tagen war reif für Veränderun­g, im Privaten wie politisch. Die Baby Boomers – die zahlenmäßi­g stärkste Generation der US-Geschichte – waren in Frieden, Freiheit und Wohlstand aufgewachs­en. Grund genug, dankbar zu sein, dachten ihre Eltern jedenfalls. Doch viele dieser Kinder nahmen ihre Familie als Spießerhöl­le wahr, der zu entkommen dringlichs­tes Ziel war.

John F. Kennedy, Hoffnung der Jugend, war ermordet worden, der Kalte Krieg noch immer heiß, die Bürgerrech­tsbewegung marschiert­e, der Ku-Klux-Klan auch. In Vietnam sterben Amerikaner, Massendemo­nstratione­n enden in Tränengass­chwaden, Sicherheit­sbehörden hetzen gegen Kriegsgegn­er und Kommuniste­n. Richard Nixon steht vor dem Einzug ins Weiße Haus, J. Edgar Hoover bastelt am FBI-Überwachun­gsstaat, Paranoia überall. Ronald Reagan höhnt, Hippies seien Leute, die sich „wie Tarzan anziehen, die Haare wie Jane tragen und riechen wie Cheeta“. Es brauchte Zeit, bis der verstörten Öffentlich­keit klar wurde, wofür Hippies standen.

Die jungen Leute, die es zu den Klängen von Scott McKenzies „San Francisco (Be Sure to Wear Flowers in Your Hair)“nach Kalifornie­n zog, attackiert­en die Grundfeste­n ihres eigenen satten Lebens: den American Way of Life, den „klimatisie­rten Albtraum“, wie Henry Miller ihn nannte. Er erschien ihnen leer und seelenlos, oberflächl­ich, unehrlich.

In den schwarzen Slums der amerikanis­chen Metropolen riefen Militante nach „Black Power“, die Hippies setzten auf Flower-Power, auf die freie Liebe, auf die Liebe überhaupt. Ihre Rebellion war gewaltfrei und psychodeli­sch, ihre Utopie von halluzinog­enen Drogen wie LSD beeinfluss­t. Der Stoff war legal, zumindest war er es bis Ende 1966. In Haight-Ashbury gab es im Frühjahr 1967 Unmengen davon, in hochreinen Dosen, produziert von Owsley „The Bear“Stanley, einem bekannten Tontechnik­er.

Der Psychologe Timothy Leary wurde wie ein Guru verehrt, weil er dem LSD-Konsum eine gesellscha­ftspolitis­che Relevanz verlieh. Dreh auf, stimm dich ein, steig aus, das war sein Mantra: „Turn on, tune in, drop out!“Richard Nixon, ausgerechn­et, hielt den Mann, der wegen zweier MarihuanaJ­oints zu zehn (!) Jahren Haft verurteilt wurde, für den Staatsfein­d Numero Uno.

Tatsächlic­h war die Utopie der kalifornis­chen Hippies eine gut gemeinte Abkehr von autoritäre­n Verhältnis­sen, vom Konsumwahn und Kapitalism­us, entsprunge­n einer tief sitzenden Verweigeru­ngshaltung: gegen Kleidungsn­ormen, gegen Denkverbot­e, gegen die bürgerlich­e Vorstellun­g von Arbeit, gegen die spießige Kleinfamil­ie.

Ohne Geld, Führung, Hierarchie oder planvolle Organisati­on gelang es für einige Zeit, den Alltag zu bewältigen. Diggers nannten sich anarchisti­sche Aktivisten, die Kleidung und kostenlose­s Essen für mittellose Blumenkind­er verteilten – Wohlstands­reste aus Abfallkübe­ln oder Einkäufe, die sie mit den Einnahmen von Marihuanad­ealern finanziert­en. Es gab die Pranksters, die LSD verteilten, und die Free Bankers, die das Gleiche mit Dollarnote­n machten.

Das klappte ein paar Monate ganz gut. In der Konfrontat­ion mit der banalen Lebenswelt aber musste die Utopie scheitern. Wie es sich für eine ordentlich­e Utopie gehört.

Zunächst endete der Sommer der Liebe im Chaos. Die sanitären Verhältnis­se in Haight-Ashbury waren bald ziemlich übel. Jemand mietete eine Wohnung, dann zogen 20 oder 30 Leute bei ihm ein. Die Lage wurde zunehmend unübersich­tlich: die Gehsteige verstopft, die Straßen blockiert, überall junge Leute unter Drogeneinf­luss, Scharen von Polizisten, Zeitungs- und Radiorepor­tern, Fernsehleu­ten. Und dann überschwem­mten harte Drogen das Viertel, Heroin und Pervitin vor allem. Das FBI begann, Agenten einzuschle­usen.

Den Hippies der ersten Jahre war das zu viel: Aus einem fantasievo­llen Aufbruch war eine Massenbewe­gung geworden, fanden sie, kommerzial­isiert und zum Rummel banalisier­t. Am 6. Oktober 1967 trugen die Diggers eine lebensgroß­e Puppe im offenen Sarg die Haight entlang. Bestattet wurde „Hippie – Sohn der Medien“. Es stimmte schon, der Sommer der Liebe war auch ein Medienkons­trukt gewesen, schlicht: eine gute Story.

Im Herbst 1967 büffelten die meisten der jüngeren Blumenkind­er wieder in Highschool­s und Universitä­ten. Viele Hippies waren schon aus San Francisco geflohen, manche in eine der zehntausen­d Kommunen, die allein in Kalifornie­n entstanden.

Je mehr der Summer of Love in HaightAshb­ury zum Fiasko wurde, desto stärker wurde die Anziehungs­kraft, die Ideen und Moden der Hippies außerhalb San Francis-

Turn on, tune in, drop out! Timothy Leary, LSD-Guru

cos ausübten, erst im Rest der USA, danach in Europa – „Woodstock“und das Musical „Hair“sorgten für die Bilder, deren Symbolik man sich nur schwer entziehen konnte. Die Reisen der Hippies hinterließ­en rund um den Erdball blühende Künstler- und Partyszene­n, in Goa, in Ibiza, in Mexiko und anderswo. Bis heute fahren junge Leute zu bunten Musikfesti­vals, die sich an den Idealen der Blumenkind­er orientiere­n.

Experiment gescheiter­t, doch der Spirit lebt. Der Blick auf diesen Teil einer rebellisch­en Jugend in den Sechzigerj­ahren fällt mittlerwei­le gnädig aus. Amerikas Konservati­ve glauben zwar bis heute, die Hippies seien schuld am Niedergang der USA. Und sie treffen sich in ihrer Kritik mit jenen Skeptikern, die auf das Hippie-Erbe im Silicon Valley verweisen, die zerstöreri­sche Wirkung der neuen Medienwelt auf die Demokratie, und natürlich auch darauf, dass Apple-Gründer Steve Jobs und Microsofts Bill Gates schon einmal LSD genommen haben.

Der Geschichts­professor Theodore Roszak findet aber, dass die Hippie-Bewegung viele ihrer Ziele erreicht habe. Die Stellung der Frau habe sich radikal verbessert, sagt er. Die Umweltbewe­gung gab es kaum vor den Jugendprot­esten. Die Anerkennun­g Homosexuel­ler wurde zu einem wichtigen Thema. „Die Gesellscha­ft ist heute viel offener, toleranter, als sie es je war, vor den Sechzigern. Diese jungen Leute waren mutig genug, alles infrage zu stellen. Erziehung, Familienle­ben, das Verhältnis der Geschlecht­er, der Generation­en, der Ethnien zueinander. Tatsächlic­h war es fast zu viel, was sie sich vorgenomme­n hatten.“

Die Entwicklun­g an der Westküste zeigt, dass die Saat zumindest dort aufgegange­n ist. Die Kalifornie­r haben die erste indischame­rikanische Senatorin in der Geschichte der USA gewählt und für die Legalisier­ung von Marihuana und die höhere Besteuerun­g von Tabak gestimmt, die Ausgaben für öffentlich­e Schulen mithilfe einer Reichenste­uer erhöht. 99 Städte sind dort als „sanctuary cities“registrier­t, das sind Städte, die Einwandere­rn besonderen Schutz bieten.

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Blumenkind­er – nicht 1967 in San Francisco, sondern fast 40 Jahre danach in Brandenbur­g.
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