Trag Blumen im Haar!
Flucht aus dem amerikanischen Albtraum. Warum das Experiment der Hippies scheitern musste. Und der Sommer der Liebe trotzdem weltweit Spuren hinterlassen hat.
Der Golden Gate Park ist die grüne Lunge San Franciscos, fünf Kilometer lang und 800 Meter breit. Die California Academy of Sciences (Akademie der Wissenschaften) gibt es dort, mit dem ausgestopften Grizzly Monarch, ja, der auf der kalifornischen Staatsflagge.
An der Ecke des Parks, wo sich Haight und Ashbury Street kreuzen, schlug vor 50 Jahren die Geburtsstunde der Hippies. Darauf hat sich die Geschichtsschreibung verständigt, daraus kann man heutzutage Profit schlagen, in Cafés und Boutiquen und kleinen Schmuckgeschäften. Der einmal höchst verpönte Kommerz ernährt die Bewohner in der Gegenwart.
Haight-Ashbury. Heute ein herausgeputzter Flecken, in dem Touristen den Hauch der Geschichte spüren und ihn in einem Souvenir nach Hause bringen wollen. Aber was geschah damals wirklich, im berühmten wie berüchtigten Summer of Love?
Der Mythos ist mittlerweile übermächtig, die Erinnerung verharrt gnädig im Ungefähren. Denn so beginnt es: Der Sommer der Liebe war ein Winter. Anfangs zumindest.
Am Nachmittag des 14. Jänner 1967 strömen Zehntausende junge Menschen in den Golden Gate Park, zum ersten Human Be-In. „Hippies Run Wild“, titelt der „San Francisco Chronicle“danach, die Hippies rasten aus. Einer übermalt ein Straßenschild: Aus der Haight Street wird die Love Street.
Hippies, das ist die nächste nötige Korrektur, gibt es schon vor dem Sommer der Liebe, sie tragen Glöckchen an den Fußgelenken und hängen sich Blüten um den Hals; sie rauchen Marihuana und schlucken LSD, die Burschen lassen sich lange Haare wachsen. Erstmals benützt Michael Fallon am 5. September 1965 im „San Francisco Examiner“diesen Begriff, als er die neue Boheme in den kleinen viktorianischen Villen in Haight-Ashbury beschreibt: Dichter, Maler und Musiker, Bürgerrechtsaktivisten, Homosexuelle, Lesben, Marihuanaraucher und, ein wenig ratlos und in Anführungszeichen noch: Hippies.
Kaum jemand kann schlüssig erklären, wie es zwei Jahre später zur Invasion in Haight-Ashbury kam. Meist sind es halbwüchsige Abenteurer zwischen 16, 17 und 25 Jahren, die es zu den Semesterferien im Frühsommer an die kalifornische Pazifikküste zieht, die größte Massenwanderung junger Menschen in der Geschichte der USA. Das Schwarze Brett des „Hashbury“Polizeireviers ist bald überfüllt mit Suchfotos, doch nicht selten verhindern lange Haare und Bärte die Wiedererkennung.
Viele der Jugendlichen stammen aus guten Familien der Mittelschicht, weiß, behütet aufgewachsen. Vielleicht ist das mit ein Grund dafür, dass Hippies zuallererst unideologisch sind – wenngleich nicht unpolitisch. Um dazuzugehören, reicht es, den Einberufungsbefehl in Brand zu stecken, oder den Büstenhalter.
Die Welt in diesen Tagen war reif für Veränderung, im Privaten wie politisch. Die Baby Boomers – die zahlenmäßig stärkste Generation der US-Geschichte – waren in Frieden, Freiheit und Wohlstand aufgewachsen. Grund genug, dankbar zu sein, dachten ihre Eltern jedenfalls. Doch viele dieser Kinder nahmen ihre Familie als Spießerhölle wahr, der zu entkommen dringlichstes Ziel war.
John F. Kennedy, Hoffnung der Jugend, war ermordet worden, der Kalte Krieg noch immer heiß, die Bürgerrechtsbewegung marschierte, der Ku-Klux-Klan auch. In Vietnam sterben Amerikaner, Massendemonstrationen enden in Tränengasschwaden, Sicherheitsbehörden hetzen gegen Kriegsgegner und Kommunisten. Richard Nixon steht vor dem Einzug ins Weiße Haus, J. Edgar Hoover bastelt am FBI-Überwachungsstaat, Paranoia überall. Ronald Reagan höhnt, Hippies seien Leute, die sich „wie Tarzan anziehen, die Haare wie Jane tragen und riechen wie Cheeta“. Es brauchte Zeit, bis der verstörten Öffentlichkeit klar wurde, wofür Hippies standen.
Die jungen Leute, die es zu den Klängen von Scott McKenzies „San Francisco (Be Sure to Wear Flowers in Your Hair)“nach Kalifornien zog, attackierten die Grundfesten ihres eigenen satten Lebens: den American Way of Life, den „klimatisierten Albtraum“, wie Henry Miller ihn nannte. Er erschien ihnen leer und seelenlos, oberflächlich, unehrlich.
In den schwarzen Slums der amerikanischen Metropolen riefen Militante nach „Black Power“, die Hippies setzten auf Flower-Power, auf die freie Liebe, auf die Liebe überhaupt. Ihre Rebellion war gewaltfrei und psychodelisch, ihre Utopie von halluzinogenen Drogen wie LSD beeinflusst. Der Stoff war legal, zumindest war er es bis Ende 1966. In Haight-Ashbury gab es im Frühjahr 1967 Unmengen davon, in hochreinen Dosen, produziert von Owsley „The Bear“Stanley, einem bekannten Tontechniker.
Der Psychologe Timothy Leary wurde wie ein Guru verehrt, weil er dem LSD-Konsum eine gesellschaftspolitische Relevanz verlieh. Dreh auf, stimm dich ein, steig aus, das war sein Mantra: „Turn on, tune in, drop out!“Richard Nixon, ausgerechnet, hielt den Mann, der wegen zweier MarihuanaJoints zu zehn (!) Jahren Haft verurteilt wurde, für den Staatsfeind Numero Uno.
Tatsächlich war die Utopie der kalifornischen Hippies eine gut gemeinte Abkehr von autoritären Verhältnissen, vom Konsumwahn und Kapitalismus, entsprungen einer tief sitzenden Verweigerungshaltung: gegen Kleidungsnormen, gegen Denkverbote, gegen die bürgerliche Vorstellung von Arbeit, gegen die spießige Kleinfamilie.
Ohne Geld, Führung, Hierarchie oder planvolle Organisation gelang es für einige Zeit, den Alltag zu bewältigen. Diggers nannten sich anarchistische Aktivisten, die Kleidung und kostenloses Essen für mittellose Blumenkinder verteilten – Wohlstandsreste aus Abfallkübeln oder Einkäufe, die sie mit den Einnahmen von Marihuanadealern finanzierten. Es gab die Pranksters, die LSD verteilten, und die Free Bankers, die das Gleiche mit Dollarnoten machten.
Das klappte ein paar Monate ganz gut. In der Konfrontation mit der banalen Lebenswelt aber musste die Utopie scheitern. Wie es sich für eine ordentliche Utopie gehört.
Zunächst endete der Sommer der Liebe im Chaos. Die sanitären Verhältnisse in Haight-Ashbury waren bald ziemlich übel. Jemand mietete eine Wohnung, dann zogen 20 oder 30 Leute bei ihm ein. Die Lage wurde zunehmend unübersichtlich: die Gehsteige verstopft, die Straßen blockiert, überall junge Leute unter Drogeneinfluss, Scharen von Polizisten, Zeitungs- und Radioreportern, Fernsehleuten. Und dann überschwemmten harte Drogen das Viertel, Heroin und Pervitin vor allem. Das FBI begann, Agenten einzuschleusen.
Den Hippies der ersten Jahre war das zu viel: Aus einem fantasievollen Aufbruch war eine Massenbewegung geworden, fanden sie, kommerzialisiert und zum Rummel banalisiert. Am 6. Oktober 1967 trugen die Diggers eine lebensgroße Puppe im offenen Sarg die Haight entlang. Bestattet wurde „Hippie – Sohn der Medien“. Es stimmte schon, der Sommer der Liebe war auch ein Medienkonstrukt gewesen, schlicht: eine gute Story.
Im Herbst 1967 büffelten die meisten der jüngeren Blumenkinder wieder in Highschools und Universitäten. Viele Hippies waren schon aus San Francisco geflohen, manche in eine der zehntausend Kommunen, die allein in Kalifornien entstanden.
Je mehr der Summer of Love in HaightAshbury zum Fiasko wurde, desto stärker wurde die Anziehungskraft, die Ideen und Moden der Hippies außerhalb San Francis-
Turn on, tune in, drop out! Timothy Leary, LSD-Guru
cos ausübten, erst im Rest der USA, danach in Europa – „Woodstock“und das Musical „Hair“sorgten für die Bilder, deren Symbolik man sich nur schwer entziehen konnte. Die Reisen der Hippies hinterließen rund um den Erdball blühende Künstler- und Partyszenen, in Goa, in Ibiza, in Mexiko und anderswo. Bis heute fahren junge Leute zu bunten Musikfestivals, die sich an den Idealen der Blumenkinder orientieren.
Experiment gescheitert, doch der Spirit lebt. Der Blick auf diesen Teil einer rebellischen Jugend in den Sechzigerjahren fällt mittlerweile gnädig aus. Amerikas Konservative glauben zwar bis heute, die Hippies seien schuld am Niedergang der USA. Und sie treffen sich in ihrer Kritik mit jenen Skeptikern, die auf das Hippie-Erbe im Silicon Valley verweisen, die zerstörerische Wirkung der neuen Medienwelt auf die Demokratie, und natürlich auch darauf, dass Apple-Gründer Steve Jobs und Microsofts Bill Gates schon einmal LSD genommen haben.
Der Geschichtsprofessor Theodore Roszak findet aber, dass die Hippie-Bewegung viele ihrer Ziele erreicht habe. Die Stellung der Frau habe sich radikal verbessert, sagt er. Die Umweltbewegung gab es kaum vor den Jugendprotesten. Die Anerkennung Homosexueller wurde zu einem wichtigen Thema. „Die Gesellschaft ist heute viel offener, toleranter, als sie es je war, vor den Sechzigern. Diese jungen Leute waren mutig genug, alles infrage zu stellen. Erziehung, Familienleben, das Verhältnis der Geschlechter, der Generationen, der Ethnien zueinander. Tatsächlich war es fast zu viel, was sie sich vorgenommen hatten.“
Die Entwicklung an der Westküste zeigt, dass die Saat zumindest dort aufgegangen ist. Die Kalifornier haben die erste indischamerikanische Senatorin in der Geschichte der USA gewählt und für die Legalisierung von Marihuana und die höhere Besteuerung von Tabak gestimmt, die Ausgaben für öffentliche Schulen mithilfe einer Reichensteuer erhöht. 99 Städte sind dort als „sanctuary cities“registriert, das sind Städte, die Einwanderern besonderen Schutz bieten.