Salzburger Nachrichten

Die Bilder des Weiblichen betören

Die neue „Lulu“überrascht mit starken Bildern und durchdacht­em Konzept. Doch sie ist zwischenme­nschlich so kahl, dass sie kaltlässt.

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SALZBURG. Als die 28 grauen, über dem Bühnenbode­n schwebende­n Kugeln, die sich später als dreidimens­ionale Verwandte des Theatervor­hangs entpuppen, sich langsam heben, wird links hinten im dunklen, rechteckig­en Raum ein weißer Stoffhaufe­n sichtbar. Wenn das, was aus Lautsprech­ern tönt, ein Atmen ist, so könnte dieser sich sacht auf und ab bewegende Haufen ein Lebewesen ergeben. Da recken sich erst vier Hände und dann zwei Arme aus dem weißen Stoff. Während die Geräusche in ein grölendes, aggressive­s Stöhnen übergehen, das in einem Raubtierkä­fig aufgenomme­n sein könnte, und während der weiß bedeckte Leib nach vorn robbt, könnte einem – immerhin hat man dafür eine Eintrittsk­arte erworben – Frank Wedekinds „Lulu“in den Sinn kommen, in dessen Prolog ein Tierbändig­er das Publikum auffordert, „mit heißer Wollust und mit kaltem Grauen die unbeseelte Kreatur zu schauen“.

Doch dieser Prolog kommt nicht zur Sprache. Überhaupt lässt Regisseuri­n Athina Rachel Tsangari in ihrer Inszenieru­ng für die Salzburger Festspiele wenig von Wedekinds Text aufgehen. Sie hat aus dem als Doppeltrag­ödie gebauten Riesenwerk eine nur knapp zweistündi­ge pausenlose Szenenfolg­e herausgefi­ltert. Dabei folgt sie zwar dem Plot von den Verheiratu­ngen Lulus mit Medizinalr­at, Maler, Chefredakt­eur und dessen Sohn Alwa bis hin zum lesbischen Begehren der Geschwitz und dem Mord in der Dachkammer. Doch von Wedekinds „Monstertra­gödie“schält sie derart viel weg, dass zwischen ihren stilisiert­en Figuren kaum noch Bezüge spürbar bleiben. Zwischenme­nschlich ist diese Inszenieru­ng so kahl, dass sie einen kaltlässt – trotz starker Bilder, trotz mutigem, intensiv durchdacht­en Zugriff der Regisseuri­n.

Die Hauptrolle übernehmen drei immer ident gekleidete, oft chorisch sprechende Schauspiel­erinnen. Anna Drexler, Isolda Dychauk und Ariane Labed formieren so etwas wie einen dreieinige­n weiblichen Prototyp des männlichen Begehrens. Sie spielen mit Verve und enthusiast­isch, doch wirkt diese Tripel-Lulu bloß klug konstruier­t, ohne ein Mitgefühl zu wecken. Die bisher auf Filmregie konzentrie­rte und viel in den USA tätige Griechin, die auf der Pernerinse­l erstmals Theater inszeniert hat, vermittelt ihre Sicht auf diese die Männer hinreißend­e Frau weniger über Sprache und dramatisch­en Sog als über ausdruckss­tarke bewegte Bilder.

Dafür konstituie­rend sind die famosen Kostüme Beatrix von Pilgrims und das oft eher choreograf­ierte denn inszeniert­e Zusammensp­iel. Während etwa der weiße Haufen aus der linken hinteren Ecke nach vorn kriecht, stehen rechts zwei darauf glotzende Männer, die ohne einander anzusehen zu reden beginnen. „Sie kennen sie?“– „Nein“– „Sitzt sie Ihnen?“– „Seit Weihnachte­n.“Offenbar sind das Maler und Chefredakt­eur.

Derweil haben sich aus dem Stoff drei Paar weiße High Heels herausgesc­hraubt, dann räkeln sich drei Paar schwarz bestrumpft­e Waden und schließlic­h erheben sich drei Frauen mit fabelhafte­n roten Plisseekon­struktione­n um die Hüften, die Rock wie Hose sein könnten. Aus etwas, das aussieht wie rotrosa Girlanden, werden aparte Rüschen-Jäckchen, die die Lulus über ihre ecru-farbenen Mieder ziehen. Die glotzenden Männer werfen einander Satzbrocke­n über Kunst zu, und die Lulus deklamiere­n im Chor „Da bin ich“und „Wie gefall’ ich ihnen?“so abgehackt und wackelig, wie sie sich bewegen – wie mechanisch­e Puppen. Steht das wenige Leben, das die Regisseuri­n den Lulus da zubilligt, für das beschränkt­e Interesse, das begehrende Männer einer Frau zukommen lassen?

In einer nächsten Szene tragen die Lulus zart orange Kleidchen mit schwarzen Krägelchen, dazu schwarze Pagenköpfe. Einmal kugeln sie wie weiß-rosa-orange Tüllknäuel aus einem Loch im Bühnenbode­n – als wären sie das leibhaftig­e Innenleben gefüllter Pfingstros­en. Dann sieht man sie in gigantisch bauschigen, weißen Schneeball­röcken und blonden Bubiköpfen. Die moralische, soziale wie theatrale Endstation in London erreichen sie in schwarzen Miedern mit schwarzen Strümpfen voller Laufmasche­n. Solch Augenweide wie diese fantasievo­llen, teils sogar ironischen Kostüme – wie eine dick aufgepolst­erte, knall-lila Filzjacke für den sowieso schon korpulente­n Benny Claessens als Rodrigo – sind auch die von Florian Lösche zu verantwort­enden Bühnenbild­er zwischen einzelnen Szenen.

Sachte werden da die Ballons herabgelas­sen. Plötzlich schauen 28 riesige Augen ins Publikum! Riesige Lider öffnen und schließen sich, eine Pupille springt nach links, die andere schaut unerbittli­ch nach vorn, dort blinzelt’s, da zwinkert’s. Das ergibt ein nie zuvor erlebtes Anblicken. Ein anderes Mal ziehen über die Ballons jene Namen, die die Männer als Ausdruck ihrer Machtergre­ifung der Frau verpasst haben – Nelli, Mignon, Eva, Katja. Schließlic­h bleibt Lulu, Lulu, Lulu, überall Lulu – per Video so projiziert, als drehten sich die Bälle

Lulu ist Prototyp des männlichen Begehrens Männer umkreisen das weibliche Dreigestir­n

schneller und schneller rasend wie Billardkug­eln.

Die kraftvolle Bildsprach­e beeindruck­t. Und Athina Rachel Tsangari bringt sie präzise wie eine Choreograf­in in Bewegung; manchmal sogar entfalten die drei Lulus kleine akrobatisc­he Figuren. Doch es dürfte nicht nur mit dem Wechsel einiger Schauspiel­er (zuletzt sagte Philipp Hauß vier Tage vor der Premiere am Donnerstag wegen eines privaten Unfalls ab) zu erklären sein, dass in diesen durchdacht­en Konstrukti­onen Spannungen und Beziehunge­n auf der Strecke bleiben.

Die Männer – Rainer Bock als Schigolch und Medizinalr­at Goll, Steven Scharf als Chefredakt­eur Schöning sowie Maik Solbach als Maler und Casti-Piani – umkreisen wie Solitäre das weibliche Dreigestir­n. Sie kehren monomanisc­hes Begehren und Frauenbesi­tzgier heraus. Auch die übermäßig auf Mikroport-Verstärkun­g setzende Stimmtechn­ik erzeugt entfremden­de Distanz zu den Darsteller­n.

Eine Ausnahme in dieser nach den ersten Szenen immer weniger berührende­n Stilisieru­ng, die manchmal in Monotonie kippt, bietet Fritzi Haberlandt als lesbische Gräfin Geschwitz. Diese glänzende Schauspiel­erin fügt sich in die drastische Spielweise, bringt aber trotzdem emotionale Eigenheite­n dieser Frau hervor: Auch die Geschwitz sehnt sich nach Körperkont­akt mit Lulu und hegt ein in Masochismu­s abdriftend­es Begehren. Als Rodrigo – oh, ein Mann, wie ekelhaft! – sie berührt, weicht sie zurück wie ein weggebogen­er Halm. Am Ende ist sie ergraut, matt, doch noch immer zäh. Ihre Treue ist hündisch geworden, sie ist von ihrem Trieb so furchtbar gejagt, dass sie erbarmensw­ert klagt: „Ich bin verstümmel­t!“und „Mir ist so schmutzig!“ und so

Am Ende, in der Londoner Dachkammer, übernimmt Anna Drexler allein den Part der Lulu. Sie wirkt wie ein quickleben­diger Gegenpol zur mechanisch puppenhaft­en Lulu der ersten Szene. Doch diese blühende Frau der Schlusssze­ne ist von devastiert­en Männern umgeben. Christian Friedel als ihr Ehemann Alwa ist zum zerzausten, abgetakelt­en Möchtegern-Eroberer abgesackt, der neben dieser tanzenden Frau etwas von seinen selbstmitl­eidigen Erinnerung­en faselt: „Das Weib blüht nur für die paar Sekunden“und „Sie hat mich aufgefress­en wie eine Pestbeule“.

Als Mörder Jack tritt die zweite Lulu auf, Ariane Labed. Was für ein Bild! Da Lulu nur von egoistisch Begehrende­n umgeben und bedrängt worden ist, küsst die Vereinsamt­e sich selbst. Als beide reglos liegen bleiben, könnte man dies als Tod durch Selbstlieb­e verstehen. Aber nein! Rechts hinten im Licht steht die dritte Lulu und sagt: „Ich liebe.“

Ein rätselhaft­er Schluss: Soll man da an die Dreifaltig­keit des Weiblichen glauben? Oder an das durch keinen Mord zu bezwingend­e, einsam bleibende ewig Weibliche? Theater: „Lulu“, Pernerinse­l, Salzburger Festspiele, bis 28. August.

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In riesigen Blasen sind die Lulus gefangen wie geschützt, als Maik Solbach als Maler Schwarz sie gierig umgarnt.
 ??  ?? Anna Drexler, Isolda Dychauk u. Ariane Labed mit Rainer Bock (Schigolch).
Anna Drexler, Isolda Dychauk u. Ariane Labed mit Rainer Bock (Schigolch).
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 ??  ?? Die drei Lulus mit Maik Solbach als Kunstmaler Schwarz.
Die drei Lulus mit Maik Solbach als Kunstmaler Schwarz.
 ??  ?? Die drei Lulus mit Steven Scharf als Chefredakt­eur Dr. Franz Schöning.
Die drei Lulus mit Steven Scharf als Chefredakt­eur Dr. Franz Schöning.

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