Junge Augen, die den Tod erahnen
Ein Relikt von Inge Morath überrascht: Ihr letztes Foto ist ein der Vergänglichkeit gewidmetes Stillleben.
Zwei dunkle Augen, die aus einem Dickicht aus Stängeln und Blättern hervorschauen. Augen, die den Betrachter direkt ansehen, junge, wache Augen, die mit der teilweise schon verblühten und etwas verdorrten Pflanze kontrastieren. „Selbstportrait mit Pflanze“lautet der Titel dieses Fotos von der in Graz geborenen Fotografin Inge Morath (1923–2002). Aufgenommen hat sie dieses für sie höchst ungewöhnliche Bild wenige Wochen vor ihrem Tod am 30. Jänner 2002 in New York. Das stilistisch Besondere an dem Bilddokument: Morath hatte die Pflanze auf ein von ihr im Jahr 1958 in Jerusalem aufgenommenes Selbstporträt gelegt und danach abfotografiert. Die Beschäftigung mit der eigenen Vergänglichkeit in ihren letzten Lebensmonaten lässt den Schluss zu, dass Morath eine Todesahnung künstlerisch umsetzen habe wollen.
Dass das berührende Bilddokument zu sehen ist, geht auf einen Zufall zurück. Als Kurt Kaindl und Brigitte Blüml vom Fotohof Salzburg nach Moraths Tod deren Atelier aufsuchten, stießen sie auf eine Kamera (eine Leica) der MagnumFotografin und Fotokünstlerin, in der sich noch ein Film befand. „Wir haben den Film in einem New Yorker Billiglabor entwickelt und sind dann auf diese letzten Bilder der Fotografin gestoßen“, berichtet Kaindl. Er und Blüml hatten jahrelang Kontakt mit Inge Morath, sie machten insgesamt sechs Fotobücher und besuchten die Fotografin immer wieder in ihrem Haus in Roxbury unweit von New York. Ihre letzten Fotos dürfte Inge Morath im Dezember 2001 gemacht haben. Danach kam sie ins Krankenhaus, ehe sie einer Krebserkrankung erlag.
Ein vorhandenes Foto zum Ausgang für ein neues Kunstwerk zu nehmen – dies ist Neuland im reichen OEuvre der Fotografin, die mit dem US-Autor Arthur Miller verheiratet war. „Konzeptuelle Fotografie war nicht ihr Ding, ja, sie hat öfter gesagt, dass sie Stillleben gar nicht mag“, berichtet Kurt Kaindl. Umso erstaunlicher erscheint in diesem Kontext die Aufnahme mit der Pflanze, die die Fotografin über ihr einstiges Porträt legte – damals war Inge Morath 35 Jahre alt – aus Jerusalem. Zum Zeitpunkt, als sie im Dezember 2001 auf den Auslöser drückte und insgesamt vier Versionen des Motivs machte, war Inge Morath bereits bewusst, dass sie an Krebs erkrankt war.
Möglicherweise sind die vier Bilder ein künstlerischer Versuch, mit dem Wissen ob der Krankheit besser umgehen zu können. Das Schwarz-Weiß-Foto weckt Assoziationen an Werke der mexikanischen Malerin Frida Kahlo (1907–1954). Von Kahlo gibt es Fotoporträts und Gemälde, die eine nicht unähnliche Stimmung verströmen – nicht nur wegen der markanten Augenbrauenpartie. Auch Kurt Kaindl sieht diese Parallelen, noch dazu, da Inge Morath Frida Kahlo persönlich gekannt und geschätzt hat: „Morath hat etwa einmal Kahlos Wohnung fotografiert.“
„Selbstportrait mit Pflanze“: Es ist ein Werk mit geheimnisvoller Grundstimmung. Die über das Foto gelegte Pflanze erscheint wie eine Maske, die das Gesicht weitgehend verhüllt. Mit dem Maskenmotiv greift Morath einen früh etablierten Kunstgriff auf: Indem sie prominente Persönlichkeiten mit Masken fotografierte, weckte sie auf humorvolle Weise das Interesse an den Dargestellten. Als die berühmtesten Bilder gelten jene, die Morath im Buch „Masquerade“mit dem rumänisch-amerikanischen Zeichner und Karikaturisten Saul Steinberg zusammengefasst hat.
Gerippeartig bedecken die Stängel die Gesichtshälfte, löschen Nasenund Mundpartie weitgehend aus. Der Blick vom abfotografierten Selbstporträt ist im wahrsten Sinne des Wortes durchdringend. „Als wir im Schnelllabor die Fotos erstmals sahen, waren wir sehr berührt“, berichtet Kaindl. Die Intensität des Motivs, gepaart mit dem Kontext, dass es sich quasi um ein bildnerisches Vermächtnis handle, habe ergriffen gemacht. Das letzte Bild der Weltbürgerin Inge Morath ist derzeit erstmals in einer Ausstellung im Fotohof-Archiv zu sehen.
Die Schau zeigt Ausgewähltes aus einer Fülle von Korrespondenzen, aus ersten Kontaktkopien, frühen Bildentwürfen und den ausstellungsreifen Prints. Das Publikum erhält Einblicke in die Arbeits- und Denkweise von Inge Morath. Ihre eigenen Texte werden einigen ihrer wichtigsten Bildern gegenübergestellt. Zudem lassen Arbeitslisten und Rohentwürfe der Bildtexte die Bildauswahl nachvollziehen. Ausstellung: