Land der Bummelstudenten
Nach sieben Jahren hat jeder Zweite noch keinen Studienabschluss. Manch einer ist Spitzenpolitiker.
Der heutige Bundespräsident Alexander Van der Bellen zählt zu den Vorzeigestudenten. Er hat sein Studium der Volkswirtschaftslehre an der Universität Innsbruck tatsächlich in Mindestzeit abgeschlossen. Verglichen mit ihm war Bundeskanzler und SPÖChef Christian Kern ein Bummelstudent. Er benötigte für seinen Magister in Publizistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien 13 Semester.
Den Vergleich mit heutigen Studenten braucht Kern jedoch nicht zu fürchten. Gerade einmal jeder Zweite hat heute nach sieben Jahren, sprich nach 14 Semestern, an der Uni seinen Abschluss in der Tasche. Und häufig ist es ein anderes Studium als jenes, das er oder sie ursprünglich begonnen hat. Das geht aus der StudierendenSozialerhebung des Instituts für Höhere Studien (IHS) hervor, die die Studienverläufe der Anfänger des Wintersemesters 2008/2009 analysierte.
Da zeigt sich auch: Der Studienerfolg hängt maßgeblich vom Alter ab. Wer mit mehr als 30 Jahren ein Bachelorstudium an einer öffentlichen Uni beginnt, hat schlechtere Chancen, es abzuschließen (29 Prozent) als Anfänger mit weniger als 21 Jahren (55 Prozent). Das gilt besonders für die Sozialund Wirtschaftswissenschaften, in denen die Erfolgsquote der weniger als 21-jährigen Studienanfänger etwa fünf Mal höher liegt als jene der mehr als 30-jährigen. Insgesamt liegt das Durchschnittsalter bei der Erstzulassung an heimischen Hochschulen bei knapp 22 Jahren, wobei Studienanfänger an berufsbegleitenden Fachhochschulen (FH), Pädagogischen Hochschulen (PH) und Privatunis drei bis sechs Jahre älter sind.
Diese Hochschulvielfalt gab es noch nicht, als Kern Anfang der 1990er-Jahre zu studieren begann. Die ersten FH nahmen im Herbst 1994 ihren Betrieb auf, die ersten Privatunis gar erst 2001. Und die PH gingen 2007 aus den Pädagogischen Akademien hervor, den Lehrerausbildungsstätten des Bundes. 1990 zählte man in Österreich 194.000 ordentliche Studierende, die allesamt an öffentlichen Unis inskribiert waren. Heute sind es mit 360.000 (Stand 2015) beinahe doppelt so viele. Kein Wunder also, wenn ein Viertel der Studierenden heutzutage über zu selten angebotene Pflichtlehrveranstaltungen, überfüllte Hörsäle und/oder die (strikte) Abfolge des Lehrveranstaltungsangebots klagt. 1990 war noch keine Rede von Aufnahmstests oder Studieneingangsphasen. Auch Bachelor- und Masterstudien gab es noch keine. Die Studien schlossen entweder mit dem Magister, dem Diplomingenieur oder dem Doktor ab.
Es gibt allerdings Umstände, mit denen Studierende bereits Anfang der 1990er-Jahre zu kämpfen hatten. Dazu gehörte, Studium, Job und gegebenenfalls eine Familie unter einen Hut zu bringen. Kanzler Kern kann ein Lied davon singen. Er wurde mit 22 Jahren Vater und zog seinen Sohn praktisch allein auf. Arbeiten ging Kern auch. Erst waren es Studentenjobs wie Babysitter, Arbeiter in einer Kaffeefabrik oder Tennisschläger-Bespanner, dann verdiente Kern sein Geld als Journalist sowie als Assistent im Bundeskanzleramt. Studiert wurde, wenn Zeit dafür blieb. „Du schreibst halt dann die Seminararbeiten nachts, wenn das Kind schläft – wie das halt so üblich ist“, ist über seine Studienzeit in seiner Biografie von Robert Misik nachzulesen.
Auch heutigen Studentenmamas und -papas dürfte es nicht viel anders ergehen. Ihr Anteil lag im Sommersemester 2015 bei neun Prozent, 2,9 Prozent hatten ein Kleinkind mit weniger als drei Jahren zu Hause. 1,1 Prozent bzw. 14 Prozent aller Studierenden mit Kind waren allein für ihren Nachwuchs verantwortlich, insgesamt 0,3 Prozent alleinerziehende Papas wie Kern.
Aber auch ein Job allein kann so fordernd sein, dass keine Zeit mehr für das Studium bleibt. Kerns Gegenspieler, ÖVP-Chef Sebastian Kurz, ist wohl das beste Beispiel dafür. Dieser hatte 2005 sein Jusstudium begonnen. Das liegt aber brach, seit Kurz 2011 zum bisher jüngsten Staatssekretär befördert worden war. Er war damals 24 Jahre alt. Es folgte der Aufstieg zum Außenminister 2014 und am 1. Juli dieses Jahres seine Kür zum ÖVP-Chef. Nun hat Kurz gute Chancen, zum neuen Regierungschef aufzusteigen, sollte er bei der bevorstehenden Nationalratswahl am 15. Oktober als Sieger hervorgehen. Es sieht also eher nicht danach aus, als fände er in näherer Zukunft die Zeit, sein Jusstudium tatsächlich abzuschließen.
Kurz muss sich darüber aber keinen Kopf machen. Rund zwölf Prozent der Studierenden geben zu, ihr Studium unterbrochen zu haben. Betroffen sind vor allem diejenigen, die das ganze Jahr lang erwerbstätig sind. Im Durchschnitt beträgt ihre Unterbrechung 3,4 Monate. Wobei sich etwas mehr Männer als Frauen zu diesem Schritt entscheiden.
Statistisch betrachtet studieren Frauen ein wenig schneller und erfolgreicher als Männer. Ausnahmen sind die Ingenieurwissenschaften und die sogenannten MINT-Fächer, also medizinische Studienrichtungen, Informatik, die Naturwissenschaften und technische Fächer, die mehr Männer erfolgreich absolvieren. Das hat laut Studienautor Martin Unger mit der geschlechterspezifischen Studienwahl zu tun. Er verweist darauf, dass der Frauenanteil beispielsweise in den Geistes- und Kulturwissenschaften sowie in Lehramtsstudien an den Universitäten mehr als drei Viertel beträgt, während er in den Ingenieurswissenschaften nicht einmal ein Drittel ausmacht. „Mehr als das Geschlecht wirkt sich in den MINT-Fächern aber aus, welche Schule jemand vor dem Studium absolviert hat“, sagt Studienautor Unger.
Das Bachelorstudium in Informatik ist das beste Beispiel dafür. Das haben nach sieben Jahren 34 Prozent der Männer, aber nur 24 Prozent aller Frauen positiv absolviert. Die Geschlechterdifferenz beträgt insgesamt also satte zehn Prozentpunkte.
Ein völlig anderes Bild erhält man, wenn man sich nur die Erfolgsquoten der HTLMaturanten ansieht. Sie liegen dann bei Männern und Frauen nahezu gleichauf bei 45 Prozent bzw. 46 Prozent. Die Frauen haben sogar um einen Prozentpunkt die Nase vorn. Bei den AHS-Maturanten verhält es sich hingegen völlig anders: Von ihnen schaffen gerade einmal 16 Prozent der weiblichen und 25 Prozent der männlichen Studierenden den Bachelor in Informatik innerhalb von sieben Jahren. Auch hier liegen zwischen den Geschlechtern neun Prozentpunkte. Studienautor Unger zeigt sich selbst ein wenig überrascht von dem Ergebnis. „Das zeigt, dass die Schulwahl den Studienerfolg maßgeblicher beeinflusst als das Geschlecht“, lautet seine Schlussfolgerung.