Geht dem EU-Parlament die Arbeit aus?
Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat sein Versprechen wahr gemacht. Die Zahl der Gesetzesvorschläge ist dramatisch gesunken.
Wenn EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker morgen früh im Plenarsaal des Straßburger Parlaments ans Rednerpult tritt, werden die Reihen der Abgeordneten ziemlich gut gefüllt sein. Die jährliche Rede zur Lage der Union ist eine Art Pflichttermin für EU-Abgeordnete und Beobachter. Noch dazu markiert die Sitzung im September traditionell die Wiederaufnahme der parlamentarischen Arbeit nach der Sommerpause. So viel Arbeit wartet auf die 751 Abgeordneten allerdings gar nicht. Juncker hatte immerhin bei seinem Amtsantritt 2014 versprochen, die Flut von Gesetzen zu beschränken. Tatsächlich kommen von der EUKommission nur noch rund zwei Dutzend Richtlinien- oder Verordnungsvorschläge im Jahr (einige davon aber ziemlich voluminös), verglichen mit mehr als 100 in den Zeiten von Junckers Vorgänger José Barroso. Entsprechend weniger – legislative – Arbeit haben die Parlamentarier. Natürlich sind wie überall auch in der EU manche Abgeordnete fleißiger, arbeiten in Ausschüssen und kümmern sich um große Dossiers, während andere lieber Nischenthemen wie „Die Rolle der Frauen in der Fischerei“erforschen, völlig folgenlose Berichte verfassen oder gar nur zu den Plenarsitzungen erscheinen. Und natürlich haben die Abgeordneten wie alle Volksvertreter auf der Welt genügend aktuelle Ereignisse zu bearbeiten und zu diskutieren, vom Fipronil-Skandal bis zum Säbelrasseln rund um Nordkorea. Dazu kommt, dass im EU-Parlament ähnlich wie im österreichischen Nationalrat häufiger Sonder- und Untersuchungsausschüsse eingesetzt werden, zuletzt zu den Panama-Papers und dem VW-Abgasskandal. Da und dort fördern sie auch neue Erkenntnisse zutage.
Die Zahl der wegweisenden Legislativ-Akte auf der Tagesordnung der Plenarsitzungen ist aber zwangsläufig geringer als früher. In der Folge ist es im Plenum nicht immer so voll wie zur Juncker-Rede. Mitunter befindet sich außer dem Präsidium und den Vertretern von EUKommission und Rat nur der jeweilige Redner im riesigen Saal, bestenfalls noch der Nachredner. Möglich ist das, weil die Rednerlisten penibel vorbereitet sind und die Zeiten auf zahlreichen Bildschirmen im Parlament angezeigt werden. Da kommt es vor, dass ein Abgeordneter aus einer der vielen Sitzungen oder einem Gespräch kurz wegmuss, weil er oder sie „Redezeit“hat – ziemlich solo, abgesehen von der Kamera, die alles mitfilmt.
Im Juli kam es zu einem Eklat. Kommissionschef Juncker verweigerte bei der Debatte über die Ratspräsidentschaft des kleinsten EULandes Malta sein Schluss-Statement, weil nur noch 30 Abgeordnete anwesend waren. Für den österreichischen Parlamentarismus-Experten Werner Zögernitz ist ein halb leerer Plenarsaal keine Besonderheit. Denn die Debatten dienten nicht dazu, jemanden zu überzeugen, sondern als „Tribüne nach außen“. In der Öffentlichkeit trage das aber mitunter zum schlechten Image der Politik bei. Dass es beim EU-Parlament nicht so ist, hat nur einen Grund: Es schaut kaum einer zu.