Junckers Rede hat einen Schönheitsfehler
Der Kommissionspräsident schlägt notwendige und teils revolutionäre Reformen vor. Wie sie umzusetzen sind, bleibt er schuldig.
Nur wenige Europäer, die nicht beruflich mit EUBelangen zu tun haben, sind gestern Vormittag gespannt vor dem Bildschirm gesessen und haben ihrem Präsidenten gelauscht. Nein, nicht Alexander Van der Bellen, sondern dem EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker, der seine traditionelle Rede zur Lage der Union gehalten hat.
Die meisten Europäer wissen nicht einmal, dass die Rede stattfindet, oder sie haben keine Zeit, weil sie arbeiten müssen. Viele interessiert einfach nicht, was in der „EU-Blase“wieder ausgeheckt wird. Zugehört haben wieder die, die eh schon Bescheid wissen: die Parlamentarier, die EU-Diplomaten, die Lobbyisten. Alle, die von der EU leben oder für sie.
Das ist ein Fehler, für den die EU-Kommission ausnahmsweise nichts kann. Es läge im Interesse jedes Österreichers, zuzuhören. Denn auch hierzulande sind mehr als die Hälfte der Beschlüsse im Nationalrat EU-Regeln. Es ist also nicht ganz unwichtig, wohin die EU-Kommission und ihr Präsident wollen.
Die Richtung, die Juncker einschlägt, ist eindeutig: mehr Europa. Ein einheitlicheres Europa, in dem nicht mehr jeder sein spezielles Europa-Menü bastelt, sondern (fast) alle den Euro einführen, bei Schengen mitmachen und gemeinsam die Außengrenze absichern. Eine leichter verständliche EU, in der es nicht mehr zwei, sondern einen Präsidenten gibt – einmal abgesehen vom Parlamentspräsidenten, den es auch weiterhin geben soll. Und eine EU, in der auch Steuerfragen mehrheitlich entschieden werden.
Junckers typische Zuhörer sind von diesen Vorschlägen angetan. Kein Wunder – zu vielen Ideen, die in den Text eingebaut wurden, haben sie in den monatelangen Vorbereitungen beigetragen. Es gibt allerdings einen tatsächlichen Schönheitsfehler in der Rede: Es bleibt völlig nebulos, wie diese teils notwendigen, teils revolutionären Veränderungen der EU in die Realität umgesetzt werden sollen. Es ist schwer vorstellbar, welche der heimischen Parteien, auch die beiden größeren, diesen weitgehenden Eingriffen in nationales Recht zustimmen würde. Denn die Skepsis im Wahlvolk gegen alles, was aus Brüssel kommt, ist groß. Das Gleiche gilt für fast jedes andere EU-Land. Ein erfahrener Politiker wie Juncker weiß das auch. Der härteste Brexit-Proponent im EU-Parlament, der Abgeordnete der UK Independence Party, Nigel Farage, warf Juncker wenig überraschend vor, nichts aus dem Brexit-Votum gelernt zu haben. „Mehr Europa ohne Zustimmung der Europäer. Mit Volldampf voraus“, sagte er. Ganz falsch ist der Eindruck nicht.