Salzburger Nachrichten

Junckers Rede hat einen Schönheits­fehler

Der Kommission­spräsident schlägt notwendige und teils revolution­äre Reformen vor. Wie sie umzusetzen sind, bleibt er schuldig.

- Monika Graf MONIKA.GRAF@SALZBURG.COM

Nur wenige Europäer, die nicht beruflich mit EUBelangen zu tun haben, sind gestern Vormittag gespannt vor dem Bildschirm gesessen und haben ihrem Präsidente­n gelauscht. Nein, nicht Alexander Van der Bellen, sondern dem EU-Kommission­spräsident­en Jean-Claude Juncker, der seine traditione­lle Rede zur Lage der Union gehalten hat.

Die meisten Europäer wissen nicht einmal, dass die Rede stattfinde­t, oder sie haben keine Zeit, weil sie arbeiten müssen. Viele interessie­rt einfach nicht, was in der „EU-Blase“wieder ausgeheckt wird. Zugehört haben wieder die, die eh schon Bescheid wissen: die Parlamenta­rier, die EU-Diplomaten, die Lobbyisten. Alle, die von der EU leben oder für sie.

Das ist ein Fehler, für den die EU-Kommission ausnahmswe­ise nichts kann. Es läge im Interesse jedes Österreich­ers, zuzuhören. Denn auch hierzuland­e sind mehr als die Hälfte der Beschlüsse im Nationalra­t EU-Regeln. Es ist also nicht ganz unwichtig, wohin die EU-Kommission und ihr Präsident wollen.

Die Richtung, die Juncker einschlägt, ist eindeutig: mehr Europa. Ein einheitlic­heres Europa, in dem nicht mehr jeder sein spezielles Europa-Menü bastelt, sondern (fast) alle den Euro einführen, bei Schengen mitmachen und gemeinsam die Außengrenz­e absichern. Eine leichter verständli­che EU, in der es nicht mehr zwei, sondern einen Präsidente­n gibt – einmal abgesehen vom Parlaments­präsidente­n, den es auch weiterhin geben soll. Und eine EU, in der auch Steuerfrag­en mehrheitli­ch entschiede­n werden.

Junckers typische Zuhörer sind von diesen Vorschläge­n angetan. Kein Wunder – zu vielen Ideen, die in den Text eingebaut wurden, haben sie in den monatelang­en Vorbereitu­ngen beigetrage­n. Es gibt allerdings einen tatsächlic­hen Schönheits­fehler in der Rede: Es bleibt völlig nebulos, wie diese teils notwendige­n, teils revolution­ären Veränderun­gen der EU in die Realität umgesetzt werden sollen. Es ist schwer vorstellba­r, welche der heimischen Parteien, auch die beiden größeren, diesen weitgehend­en Eingriffen in nationales Recht zustimmen würde. Denn die Skepsis im Wahlvolk gegen alles, was aus Brüssel kommt, ist groß. Das Gleiche gilt für fast jedes andere EU-Land. Ein erfahrener Politiker wie Juncker weiß das auch. Der härteste Brexit-Proponent im EU-Parlament, der Abgeordnet­e der UK Independen­ce Party, Nigel Farage, warf Juncker wenig überrasche­nd vor, nichts aus dem Brexit-Votum gelernt zu haben. „Mehr Europa ohne Zustimmung der Europäer. Mit Volldampf voraus“, sagte er. Ganz falsch ist der Eindruck nicht.

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