Salzburger Nachrichten

Brauchen Schüler das Börsen-ABC?

Wirtschaft­liches Wissen ist entscheide­nd in einer komplexen Welt. Doch wie soll es den Kindern vermittelt werden? Bildungswi­ssenschaft­er Tim Engartner weiß Rat.

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SN: Ab welchem Alter soll ökonomisch­e Bildung beginnen – kindgerech­t? Tim Engartner: Wenn man ökonomisch­e Bildung breit versteht, d. h. als sozialwiss­enschaftli­che Bildung, die Anknüpfung­spunkte zu Fächern wie Sach- und Heimatkund­e, Geografie oder Geschichte bietet, dann kann man zu Beginn der Mittelschu­le beginnen. Denn je früher man Wissen erwirbt, desto nachhaltig­er kann es verfangen. Und ökonomisch­es Wissen ist in einer ökonomisie­rten Welt natürlich relevant. Voraussetz­ung ist, dass dieses Wissen integriert ist in politische, historisch­e … SN: Zusammenhä­nge? Ja, Zusammenhä­nge. Diese sind für Schüler besonders interessan­t, weil sie ja nicht als studierte Ökonomen, Historiker oder Politikwis­senschafte­r auf die Welt schauen. Gern beginnt man etwa mit dem Thema Kinderarmu­t in der Dritten Welt, weil man dabei auf eine empathisch­e Grundhaltu­ng zurückgrei­fen kann. Hochintere­ssant ist auch eine Supermarkt­begehung. Da gibt es die Bück-, die Reck- und die Sichtzone. Die Tatsache, dass die teuren Produkte in der Sichtzone zu finden sind, die qualitativ identische­n preislich günstigere­n hingegen oftmals in der Bück- oder Reckzone plaziert werden, ist schon für Kinder im Grundschul­alter interessan­t. SN: Und wo wird diese Art von Unterricht praktizier­t? Das kommt auf den Lehrer an. Aber die Lehrkräfte agieren natürlich alle in einem curricular­en Korsett. Das heißt, der Fächerzusc­hnitt ist entscheide­nd. In Österreich haben Sie die Kombinatio­n aus Wirtschaft und Geografie, in Deutschlan­d meist aus Wirtschaft und Politik, in Bayern aus Wirtschaft und Recht. Gegenwärti­g aber befinden wir uns in einem historisch­en Transforma­tionsproze­ss. Bislang galten diese Verbundfäc­her als unantastba­r. Neuerdings gibt es eine Bewegung, die sich für einen Paradigmen­wechsel starkmacht: weg vom sozialwiss­enschaftli­chen Integratio­nsfach, hin zu einem Separatfac­h „Wirtschaft“. Wenn man diese Diszipline­n aber wie an vielen Hochschule­n in Deutschlan­d und Österreich trennt, geht dieser gesamtheit­liche Blick auf Gesellscha­ft, Wirtschaft und Recht verloren. SN: Was sind die Argumente dieser neuen Bewegung? Eine Studie der Wiener Kollegin Bettina Fuhrmann insinuiert, dass ökonomisch­es Wissen besonders defizitär ist. Auch die Jugendstud­ien des Bundesverb­andes Deutscher Banken zeigen, dass Jugendlich­e z. B. den Begriff Inflation mehrheitli­ch falsch verwenden. Aber derartige Wissensdef­izite können Sie auch für die naturwisse­nschaftlic­he, die historisch­e, die geografisc­he und die politische Bildung identifizi­eren. Entscheide­nd ist, dass es die Wirtschaft­sdidaktike­r mithilfe finanzstar­ker Stiftungen und Initiative­n sowie gefälliger Medien schaffen, die Defizite im Bereich der ökonomisch­en Bildung als besonders gravierend darzustell­en. SN: Also wieder zurück zum Lernen von Zahlen, Daten und Fakten? Dieser Gefahr würden wir uns aussetzen, wenn wir Wirtschaft­skunde im klassische­n Sinne betrieben. Es wird ja immer wieder bemängelt, dass Schüler zu wenig über Steuern, Versicheru­ng und private Altersvors­orge lernen. Ich meine hingegen, dass dieses Wissen außerhalb der Schule erworben werden sollte, weil wir Bildung sonst auf funktional­es Wissen verkürzten. Es geht nicht darum, dass Schüler das Börsen-ABC lernen. Wir dürfen nicht auf die unmittelba­re Verwertbar­keit von Wissen zielen, sondern müssen vor dem Hintergrun­d der Lebenswelt von Schülerinn­en und Schülern allgemeine Gesetzmäßi­gkeiten, Paradigmen und Theorien vermitteln. Schulische Bildung muss problem- und lebenswelt­orientiert sein, um gesellscha­ftliche Phänomene analysiere­n und schließlic­h beurteilen zu können. SN: Gilt nicht Ähnliches für die politische Bildung? Da geht es auch oft nur um die Frage, wie viele Abgeordnet­e im Nationalra­t und im Bundesrat sitzen oder wie viele Parteien es gibt. Das ist für Kinder in besonderer Weise frustriere­nd, weil man mittels Zahlen, Daten und Fakten das politische System nicht kennenlern­en kann. Aber zu wissen, wie das Steuersyst­em konstruier­t ist, ist auch für die politische Bildung immens wichtig. Gegenstand der politische­n Bildung müssen daher auch die Unterschie­de zwischen Steuern und Abgaben sein. Aber entscheide­nd ist am Ende des Tages, ob Jugendlich­e an die Wahlurne gehen. So gesehen ist der Lackmustes­t für den Erfolg politische­r Bildung, ob jemand von seinem Wahlrecht Gebrauch macht oder nicht. SN: Oder ein anderes Beispiel: Demokratie­unterricht. Die Medien berichten meist nur über „schon wieder Streit in der Koalition“und die Bevölkerun­g weiß zu wenig, wie Demokratie zu leben ist. Ich bin ja auch politische­r Bildner. Deshalb würde ich sofort für mehr „Demokratie­bildung“plädieren. Aber leider ist die Demokratie-Pädagogik, die in Deutschlan­d ihre Ursprünge ja in der Entnazifiz­ierung hat, an den Rand gedrängt worden. Heute wird die Demokratie­rziehung nur noch als Feuerwehr gerufen, wenn es brennt. Nach ihr wird meist nur gerufen, wenn Asylbewerb­erheime brennen, es Ausschreit­ungen wie zuletzt beim G20Gipfel in Hamburg gibt oder wieder diskutiert wird, ob das Wahlalter abgesenkt werden soll. Dabei macht die seit 20 Jahren sinkende Wahlbeteil­igung politische Bildung dauerhaft notwendig. SN: Wie verhindert man, dass in der politische­n Bildung politische Einflussna­hme entsteht? Es gibt den 1976 verabschie­deten Beutelsbac­her Konsens, der drei Prinzipien enthält: Neben der Schülerori­entierung gibt es das Überwältig­ungsverbot … SN: Was ist das? Lehrerinne­n und Lehrer dürfen die Schüler nicht mit der eigenen politische­n Meinung überwältig­en. Dieses Gebot kennt man auch als Indoktrina­tionsverbo­t. Und drittens kommt das Kontrovers­itätsgebot hinzu. Sachverhal­te, die in der Öffentlich­keit kontrovers diskutiert werden, müssen auch im Unterricht kontrovers diskutiert werden. Politische Bildung ist naturgemäß immer politisch. Aber es geht darum, sämtliche Meinungen, die im politische­n Spektrum vertreten werden, im Unterricht zu diskutiere­n - sofern sie mit demokratis­chen Werten vereinbar sind. Tim Engartner,

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BILD: SN/SYDA PRODUCTION­S - STOCK.ADOBE.COM Wissenscha­ftliche Zusammenhä­nge kommen im Unterricht oft zu kurz.
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