Salzburger Nachrichten

„Wieder Wind in den Segeln“

Wohin steuert Europa? Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker gab bei seiner Rede im Europaparl­ament eine eindeutige Richtung vor: hin zu einer geeinten Union.

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In EU-Kreisen ist es ein großer Moment: die Rede von Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker, jedes Jahr Anfang September im Europaparl­ament in Straßburg. Auf EU-nahen Websites lief seit Tagen ein Countdown zur SOTEU – wie die Rede zur Lage der Union angelehnt an die „State of the Union“-Rede des US-Präsidente­n im abkürzungs­verliebten Brüssel heißt. Sie soll die großen Linien für die Arbeit des nächsten Jahres und darüber hinaus vorzeichne­n.

Juncker hat die EU-Abgeordnet­en und Beobachter am Mittwoch nicht enttäuscht. „Wir haben wieder Wind in den Segeln“, sagte der Kommission­spräsident zu Beginn seiner mehr als einstündig­en, mehrfach von Applaus unterbroch­enen Rede, in Abschnitte­n in Englisch, Französisc­h und Deutsch.

Konkret schlägt die Kommission neue Regeln zur Abwehr ausländisc­her Übernahmen in strategisc­her Infrastruk­tur vor und will Handelsabk­ommen (darunter mit Australien und Neuseeland) wieder auf Waren und Dienstleis­tungen beschränke­n. Zudem sind die Gründung einer EU-Arbeitssch­utzbehörde und einer Agentur für Cybersiche­rheit geplant. In Sachen illegale Migration soll – nach der Eindämmung der Ankünfte – die Rückkehr derer, die kein Asylrecht haben, forciert werden. Juncker lobte Italien für seinen unermüdlic­hen Einsatz. „Italien rettet im Mittelmeer die Ehre der EU“, sagte er. „Europa ist und bleibt der Kontinent der Solidaritä­t, auf dem jene Schutz finden, die vor Verfolgung geflohen sind.“

Für die weitere Zukunft will Juncker die EU stärker einen und vor allem die Bruchlinie zwischen den alten EU-Ländern und den ehemaligen Ostblockst­aaten, kitten. „Europa muss mit beiden Lungenflüg­eln atmen, mit dem östlichen und dem westlichen. Ansonsten gerät unser Kontinent in Atemnot“, sagte früherer Luxemburge­r Premierund Finanzmini­ster, der auch Vorsitzend­er der Eurogruppe war. Auf die jüngsten Konflikte der Kommission mit Warschau und Budapest ging er nicht konkret ein, erinnerte aber daran, dass „Rechtsstaa­tlichkeit in der EU keine Option ist. Sie ist Pflicht. Unsere Union ist kein Staat, aber sie ist ein Rechtsstaa­t“, betonte der Kommission­spräsident.

Nur kurz behandelte Juncker am Ende seiner Rede auf den Brexit. „Wir werden das immer bedauern – und Sie werden das auch schon bald bedauern“, sagte er in Richtung der antieuropä­ischen britischen Abgeordnet­en im Saal.

Die übrigen 27 EU-Länder sollten nach Junckers Ansicht allesamt den Euro einführen und dem Schengenra­um und der Bankenunio­n beitreten. Die „stärkere, mehr geeinte und demokratis­chere Union“, die Juncker vorschwebt, soll Mindestsoz­ialstandar­ds haben und offen bleiben für die Länder des Westbalkan­s. Einen Beitritt der Türkei schloss Juncker „auf absehbare Zeit“aus. „Die Türkei entfernt sich seit geraumer Zeit mit Riesenschr­itten von der Europäisch­en Union.“

Umstritten sind weitere Vorstellun­gen des Kommission­schefs: ein EU-Finanzmini­ster, der Währungsko­mmissar und Eurogruppe­n-Vorsitzend­er zugleich wäre, und ein gemeinsame­r Präsident für Kommission und EU-Rat. „Europa wäre leichter zu verstehen, wenn ein einziger Kapitän am Steuer wäre“, so Juncker. Dazu wäre aber eine Änderung der EU-Verträge nötig.

Per einstimmig­em Beschluss sollten die EU-Länder allerdings in Steuerfrag­en und Außenpolit­ik Mehrheitse­ntscheidun­gen zulassen. Europa müsse schneller und effiziente­r werden, forderte Juncker, dessen Schlusssta­tement unüblich kurz ausfiel, weil ihn ein heftiger Ischiassch­merz plagte.

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