Salzburger Nachrichten

Das Schweigen überwinden

Mehr als die Hälfte der Fälle sexualisie­rter Gewalt wird, wenn überhaupt, erst im Erwachsene­nalter aufgedeckt. Wie man die Opfer unterstütz­en kann.

- MARTIN BEHR

GRAZ. Bis die Wahrheit ans Licht kommt, können Jahrzehnte vergehen. Anton (Name geändert) hat sich 40 Jahre nicht daran erinnern können, dass er als Zehnjährig­er Opfer von sexualisie­rter Gewalt geworden ist. „Das ist insbesonde­re bei Gewalterfa­hrungen, die innerhalb der Familie passiert sind, ein typisches Muster“, sagt die Grazer Soziologin Elli Scambor. Vier Jahrzehnte lang hat Anton seine Erlebnisse verdrängt, er befand sich in einer Art „Schockstar­re“.

Werden Kinder und Jugendlich­e Ziel sexualisie­rter Gewalt, so gelingt es ihnen häufig nicht oder erst spät, sich erfolgreic­h zu outen und dabei die Hilfe zu bekommen, die sie benötigen würden. Männliche Jugendlich­e haben es in der Praxis noch schwerer, da die traditione­llen Konzepte von Männlichke­it es nicht vorsehen, Opfer zu sein. Hier gilt es, eine von der Gesellscha­ft aufgebaute „doppelte Mauer des Schweigens“zu durchbrech­en. Die aktuelle Studie „Aufdeckung und Prävention von sexualisie­rter Gewalt gegen männliche Kinder und Jugendlich­e“hat nun untersucht, wie man es den Betroffene­n erleichter­n könnte, das Widerfahre­ne früher zu verbalisie­ren und an die Öffentlich­keit zu bringen.

„Für die Studie wurden 31 Interviews mit Betroffene­n geführt und ausgewerte­t“, berichtet Elli Scambor, die Leiterin des Grazer Instituts für Männer- und Geschlecht­erforschun­g. Wichtig sei es vor allem, den Männern „Anerkennun­g und Solidaritä­t“zu vermitteln: „Die Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird, hält viele Betroffene davon ab, anderen die Gewalterle­bnisse anzuvertra­uen.“Hilfreich sei auch ein spezielles Wissen, um sexualisie­rte Gewalt überhaupt als solche erkennen, einordnen, benennen und bearbeiten zu können. „Sexualisie­rte Gewalt ist vielfältig, das kann mit Fotos halb nackter Kinder beginnen und mit sexuellem Missbrauch enden“, berichtet Scambor, die die Studienerg­ebnisse Mittwochab­end unter dem Motto „… erzähl, wenn Dir danach ist. Ich höre zu.“im MännerKaff­ee Graz referiert hat.

Laut internatio­nalen Studien sind zwischen fünf und sechs Prozent der männlichen Jugendlich­en von sexualisie­rter Gewalt betroffen. Dies entspricht in Österreich einer Gruppe von rund 230.000 Männern. Laut Scambor ist es auch von besonderer Bedeutung, „Unsicherhe­iten und Schuldgefü­hle“bei den Betroffene­n zu beseitigen. In nicht seltenen Fällen würden nämlich die Täter ihren Opfern suggeriere­n, dass diese die Gewalthand­lungen und Übergriffe auch selbst gewollt hätten. Eine klare Benennung des Täters würde zu einer „Ent-Schuldung“führen.

Was Scambor weiters empfiehlt, ist die Schaffung eines von der „Kultur der Sorge“geprägten Klimas. Betroffene fühlten sich oftmals isoliert und in großer Einsamkeit, da dieses „brennende Thema in der Öffentlich­keit ja kaum vorkommt“. „Wichtig sind spezialisi­erte Hilfsangeb­ote sowie ausgebilde­te Kräfte, die zuhören können, wenn Jugendlich­e bereit sind, über ihre Gewalterfa­hrungen zu reden. Ein durch die Interviews bestätigte­s Faktum ist weiters, dass die Aufdeckung in der Praxis zusätzlich erschwert wird, wenn die sexualisie­rte Gewalt von Frauen ausgegange­n ist.

„Die Aufdeckung ist ein vielschich­tiger und meist lang anhaltende­r Prozess“, betont die Soziologin. Kinder wie Jugendlich­e bräuchten dabei massive Unterstütz­ung. „In einem Fall hat das Opfer, das jahrelang vom Onkel missbrauch­t worden war, gedacht, die sexuellen Handlungen seien normal“, sagt Scambor.

„Opfer sind oft in einer Art Schockstar­re.“Elli Scambor, Soziologin

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