„Die Schätze im Leben suchen“
Die Medizin weiß viel über Ursachen von Krankheiten, aber wenig darüber, wie Gesundheit entsteht und bewahrt werden kann. Was trägt die Natur dazu bei und wie meldet sich das Leben nach Krisen zurück?
Reinhold Fartacek, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, plädiert im SN-Gespräch dafür, den Körper zu stärken, statt immer nur nach Fehlern zu suchen.
SN: Was wissen wir darüber, wie Gesundheit entsteht und bewahrt werden kann?
Fartacek: Bei uns steht meist die pathologische Betrachtungsweise im Vordergrund, die Fehlerfahndung, die Frage, was falsch läuft im Körper. Der andere Blickwinkel ist die Salutogenese, also die Schatzsuche, die Suche nach allem, was meine Gesundheit fördert. Und das ist zuallererst die körperliche Aktivität in der Natur. Bewegung in der Natur tut der Lunge und dem Herzen genauso gut wie dem Gehirn. Es verbessert die Hirndurchblutung und die Neubildung von Gefäßen und Gehirnzellen. Das kann man messen, wenn man ein Bewegungsprogramm in der Natur absolviert.
Wenn ich einen Wanderweg auf unebenem Gelände gehe, wird das Gehirn viel mehr aktiviert, als wenn ich auf dem Hometrainer Kondition trainiere. Wenn sich jemand motivieren kann, regelmäßige Bewegung in der Natur in sein Leben einzubauen, ist das ein gesundheitsfördernder Faktor erster Güte.
SN: Was trägt psychisch am meisten zur Gesundheit bei?
Es geht vor allem um das Kohärenzgefühl, das sich aus drei wesentlichen Komponenten zusammensetzt: Die Verstehbarkeit meines Lebens, das heißt, dass ich die Zusammenhänge meines Lebens rückblickend verstehen kann. Die Handhabbarkeit, das heißt, dass ich die Fähigkeit habe, mein eigenes Leben gestalten zu können, und die Sinnhaftigkeit, also der Glaube, dass mein Leben einen Sinn hat.
SN: Wie soll jemand verstehen können, dass ihn eine schwere Krankheit heimsucht?
Jeder Mensch macht körperliche oder seelische Krisen durch, bei denen er vieles nicht versteht. Aber letztlich erarbeiten sich die meisten Menschen in und vor allem nach einer solchen Krise eine Sichtweise, durch die sie verstehen, warum sich eine Krankheit entwickelt hat. Aus diesem Verständnis heraus können sie wieder in die Zukunft schauen. Wir Menschen haben offenbar die glückliche Anlage, dass sich das Leben auch nach schweren Krisen – in der Regel – wieder zurückmeldet.
Das zeigt sich zum Beispiel bei Trennungen oder dem Tod eines Partners. Da geht jeder Mensch durch eine schwere Krise, in der er in der ersten Zeit überhaupt nichts versteht und in Gefahr ist zu resignieren. Aber nach einer gewissen Zeit gelingt es den meisten auch ohne professionelle Hilfe, wieder in die Spur zu kommen. Irgendwann kann dieser Mensch dann sagen, diese Krise, die ich mir nicht gewünscht habe, ist im Rückblick doch eine Chance geworden. Wenn jemand auf dem Höhepunkt seiner Krise ist, wäre es völlig verfehlt zu sagen: Das ist jetzt deine Chance! Das wäre ein schwerer Fehler. Aber wenn die Krise überwunden ist, versteht der Betroffene meist mehr über den Zusammenhang seines Lebens als vorher.
SN: In der Regel setzt sich also der Lebenswille durch?
Junge Menschen sagen bei Umfragen, wenn sie schwer krebskrank würden, möchten sie nicht mehr leben. Sobald jemand aber tatsächlich in dieser Situation steht, gibt es nur mehr das Thema: Wie überlebe ich das?! Bei schweren Erkrankungen konzentriert sich alles nur mehr auf den Gedanken des Überlebens. Selbst schwerst krebskranke Patienten nehmen meist jede auch belastende Therapie auf sich, um diese Chance zu wahren. Bei psychischen Krisen zeigt sich das ähnlich. Solange ein Mensch noch einen Funken Hoffnung hat, dass sich alles zum Besseren wenden könnte, lebt die Chance.
SN: Welche Bedeutung hat die Resilienz, die heute so viel diskutiert wird?
Diese Widerstandsfähigkeit ist ein wesentlicher Aspekt der Salutogenese. Ich zitiere dazu gern einen Gedanken von Joachim Radkau: „Die Angst lässt sich, wenn man an sich arbeitet, in Sorge verwandeln; und die Sorge ist eine Quelle der Vorsorge – und der Fürsorge.“
SN: Woher kommt diese Widerstandsfähigkeit?
Es gibt Menschen, die so viele schwere Krisen bewältigt haben, dass man sich selbst fragt, wie es einem dabei ergehen würde. Und es gibt Menschen, die von der kleinsten Krise umgeworfen werden.
Das hängt stark mit der Kindheit zusammen. Glück hat ein Kind, das in der Vorschulzeit in einer Familie aufgewachsen ist, in der sich etwas rührt, in der kultiviert gestritten wird, wo ich als Kind auch einmal den Vater anschreien kann und man sich trotzdem immer wieder versöhnt. Da lernt ein Kind ganz wesentliche Qualitäten dafür, wie man später mit Krisen umgehen kann.
Umgekehrt entsteht diese Widerstandskraft kaum in einer Familie, in der sich buchstäblich nichts ereignet. Wenn mir ein Patient sagt, in seiner Familie sei noch nie gestritten worden, dann läuten bei mir die Alarmglocken. In einer Familie, in der sich nichts rührt, kann ein Kind nichts lernen. Solche Menschen haben später wenig Ressourcen, um Krisen zu bewältigen.