Der Teufel steckt stets im Blues
Dass die Rolling Stones immer weiterspielen, war lange ein Problem. Das Problem erledigt sich mit der aktuellen Tournee.
Der Teufel ist los. Ein Urschrei aus Zehntausenden Kehlen heißt ihn willkommen. „Please allow me to introduce myself“, sagt er. Das ist höflich, aber unnötig. Er muss sich nicht vorstellen. Alle kennen ihn und seine Kumpels, den Mick, Keith, den Ron und Charlie. Gefühlt sind sie ja immer schon da und unsterblich. Wie der Teufel.
Mit seinen 76 Jahren sitzt Charlie am Schlagzeug und eröffnet mit unverkennbaren Klapperschlägen die Beschwörung. Huh-Huh! Und im Eröffnungssong „Sympathy for the devil“fallen die anderen auch über 70.000 Erwartungsvolle im Münchner Olympiastadion herein. Die Rolling Stones sind da. Wieder einmal. Europatour. Alle paar Tage eine andere Stadt. Jeden Tag – das geht sich nicht mehr aus. Die Herren sind zwar gut in Form, aber im Schnitt halt schon 73 Jahre alt. Gut also, dass die Bühne so riesig ist, dass es drei Tage braucht, bis sie steht. Hamburg und München waren schon. Am Samstag geht’s nach Spielberg. „No Filter“haben sie die Tour genannt. Und nach zweieinhalb Stunden ist klar: Es ist ein gut gewählter Titel. So nahe an Mark und Bein ihrer Ursuppe waren die Stones seit Jahrzehnten nicht. Und wer weiß, ob sie’s je wieder sein werden.
Immer ist es ja das letzte Mal, dass die Stones kommen. So gehen jedenfalls die Gerüchte – und zwar schon ewig. Diese Gerüchte trieben ein paar damals 20-jährige Popnarren 1990 nach Wien ins Stadion zur „Urban Jungle Tour“. Zum ersten Mal nach 1982 spielten die Stones live. Mittelmäßig waren die Stones damals. Aber zumindest konnte man sagen: Ich habe sie gesehen.
Immerhin geht es da um die größte Rockband der Welt. Es geht um eine Partie, die Aufruhr verursachte, ja vielleicht sogar die Welt ein bisschen änderte und die auch nach Einnahmen die größte Band der Welt ist. Superlative werden auch im Pop in Bilanzzahlen gemessen. Wer aber die Ökonomie aus dem Kopf bekommt, erlebt nun reinen Herzens nicht die größte, geschäftstüchtigste Rockband der Welt, sondern eine Art Rückbesinnung – nicht bei den Einnahmen, aber in der Musik.
Also ereignet sich – nach rund 30 musikalisch ereignislosen Jahren – ein Glücksfall im Stones-Universum. Das liegt wohl am Album „Blue And Lonesome“. Da haben sie sich im vergangenen Jahr auf alte Tugenden besonnen und spielten Bluessongs ein. Vielleicht auch, weil ihnen kein neues, eigenes Material mehr einfällt. Macht aber nichts. Ja, wie erfreulich das sogar ist, wird bei der Tour nach fünf Nummern deutlich. Da stürzen sie sich in zwei Blues-Cover: Buddy Johnsons „Just Your Fool“und Jimmy Reeds „Ride ’Em Down“. Ron Wood und Keith Richards hauen knochentrocken Licks aus ihren Gitarren. Mick Jagger jubiliert an der Mundharmonika und singt teuflisch räudig, und Charlie Watts hält eisern die Stellung.
Nach diesen Coverversionen drehen sie die Blues-Schraube mit dem selten gespielten „Dancing With Mr D.“noch stärker zu, anarchisch, ja wild sogar klingt das. Rund um diese Herzstücke gibt es die übliche, bekannte Dienstleistung, ein Hitprogramm, das sie zuletzt auch gern seicht herunternudelten. Nicht aber dieses Mal.
Die Hinwendung zum Ur-Blues macht sich auch bei „Honky Tonk Woman“, „Jumpin’ Jack Flash“oder „Satisfaction“bemerkbar. Songs, längst Weltkulturerbe, Denkmäler, die bisweilen verstaubt klingen, strahlen frisch. Und „Gimme Shelter“ aus dem 69er-Jahr ereignet sich nicht nur wegen seiner Textzeile „War, children, it’s just a shot away“in einer Welt zwischen Trump und Kim als höchst aktueller Kommentar. Es sind Kraft und Aggression in Jaggers Stimme, die dem Song eine längst vergessen geglaubte Bedrohlichkeit und Dringlichkeit geben. Stimmt schon: Es ist „only Rock ’n’ Roll“. Aber: „We like it.“Und wenn der Stones-Rock so vom Blues getränkt ist wie dieses Mal, kann man ihn auf seine uralten Tage umso mehr mögen.
Den Blues können nämlich auch die noch spielen, die aussehen wie verwitterte Äpfel. Oder anders herum: Vielleicht können ihn gerade die spielen, weil sie das teuflische Substrat des Blues, dessen existenzielle Note, ein Leben lang inhaliert haben. Freilich erzählen da Multimillionäre vom „poor boy“, vom „Midnight Rambler“, vom „Street Fighting Man“, alles rastlose, aufgewühlte Typen. Und um die Multimillionären zu sehen, müssen im Durchschnitt 200, 300 Euro hingelegt werden. Eher stehen da also Männer von „wealth and taste“auf der Bühne. Aber was sollte der Kontostand mit der spürbaren Urfreude am Musizieren zu tun haben? Und je länger sie spielen, desto stärker wächst das Gefühl, dass sie sich jener Urkraft erinnern, die sie zum zeitlosen Phänomen macht. Die Spielchen sind vorbei. Es gibt keine aufblasbaren Puppen, keine Gimmicks, schon: ein Feuerwerk gibt’s am Ende, aber das ist halt Folklore. Die Bühne ist auch wieder riesig, wird von vier 30 Meter hohen Türmen beherrscht. Zu sehen ist darauf aber kein gekünstelter VideoSchabernack. Zu sehen sind bloß die Livegesichter zur Livemusik. Übergroß. Und darunter auf der Bühne rücken die vier Handlager des Aufruhrs bisweilen diabolisch eng zusammen.
Es regiert Konzentration auf das Wesentliche. Und im Wesentlichen sind das ein magischer Trickser vorn an der Rampe, zwei zerfurchte Gitarristen, die in großen Momenten klingen, als spielte jeder ein Solo, und doch ist alles eins, und ein Schlagzeuger, der keine Millisekunde abweicht, um dem Groove des Ganzen Halt zu geben. Jetzt und in Ewigkeit. Aufhören? Bloß weil man Mitte 70 ist. Einen Teufel werden sie tun. Die Sache kommt doch gerade erst wieder richtig ins Rollen.