Von denen oben da und denen unten da
Das oberste Prozent der Österreicher besitzt ein Viertel des gesamten Vermögens. Die Einkommen driften auseinander. Und doch ist die Ungleichheit in Österreich deutlich geringer als in den meisten anderen EU-Staaten. Wie passt das zusammen?
„Hol dir, was dir zusteht!“Der klassenkämpferische Slogan des wahlkämpfenden Kanzlers Christian Kern hätte früher vielleicht die Arbeiter in manchem städtischen Industriearbeiterviertel aufgerüttelt. Heute scheint eine solche Ansage niemanden mehr hinter dem Ofen hervorzulocken. Auch nicht die, an die sich die Kanzlerparole richtete – die Arbeiter und Angestellten. Die Leute hätten sich mittlerweile eben damit abgefunden, dass es nichts mehr zu verteilen gebe, sagt Robert Müllner. Der Betriebsrat beim Salzburger Beschlägehersteller Maco vertritt 350 Angestellte und sitzt für die grün-alternativen Gewerkschafter in der Salzburger Arbeiterkammer. Müllner hört täglich, wo bei den Mitarbeitern der Schuh drückt, im Job wie im Privaten. Seit Jahren werde den Menschen von Firmenchefs und Politikern eingetrichtert: „Wir müssen alle sparen!“Deshalb kämen die Leute gar nicht auf die Idee, darüber nachzudenken, was eigentlich ihr fairer Anteil wäre. Müllner selbst ist der Meinung: „Ich glaube schon, dass wir mehr rauskriegen müssten.“Es brauche eine ganz andere Steuerpolitik – mit Vermögens- und Erbschaftssteuern.
Auch wenn die SPÖ ihren „Hol dir, was dir zusteht!“-Slogan begraben und der Smartsuit-SPÖ-Chef diesen auch nicht besonders authentisch vertreten hat: Wahlkampfthema ist die soziale Frage jedenfalls geworden. ÖVP-Mann Sebastian Kurz wirbt mit „neuer Gerechtigkeit“. FPÖ-Chef HeinzChristian Strache plakatiert: „Österreicher verdienen Fairness“. Und die Grünen plädieren für „sozialen Zusammenhalt“.
Bei so viel Gerechtigkeits-Wahlkampf stellt sich die Frage: Hat der Durchschnittsösterreicher wirklich weniger Geld und Vermögen, als ihm eigentlich zusteht? Ist es tatsächlich so, dass auch heute noch die da „unten“immer weniger vom Kuchen bekommen und deshalb grimmig fordernd auftreten müssen? Geht die Einkommensund Vermögensschere in Österreich weiter auseinander mit der Folge, dass denen unten durch die Weitervererbung der Ungleichheit von Generation zu Generation auch die Hoffnung auf den sozialen Aufstieg für ihre Kinder geraubt wird?
Tatsächlich hat Österreich eine der höchsten Vermögensschieflagen in der Eurozone. Das Vermögen ist stark konzentriert. Nur Zypern, Deutschland und Lettland haben ein höheres Ungleichgewicht bei der Verteilung. Die reichsten fünf Prozent der Haushalte besitzen etwa gleich viel wie die unteren 90 Prozent, nämlich 43 Prozent des gesamten Nettovermögens – das ist der vierthöchste Wert in der Eurozone. Der Chefökonom der Wiener Arbeiterkammer, Markus Marterbauer, weist auch darauf hin, dass das oberste Prozent in Österreich über ein Viertel des gesamten Vermögens verfüge. Mehrere Studien hätten zudem gezeigt, dass es bei den Reichen eine starke Untererfassung gebe, die Vermögenskonzentration ganz oben also noch deutlich höher sei, sodass das oberste Prozent sogar rund 37 Prozent des Vermögens besitze.
Die Lohnquote – also der Anteil des Arbeitnehmerentgelts am Volkseinkommen – ist im Jahrzehnt vor der Finanzkrise stark (von 70% auf 63%) zurückgegangen, wie Marterbauer vorrechnet. Im Hintergrund stand der starke Anstieg der Vermögenseinkommen – sowohl Finanzeinkommen als auch aus Immobilienbesitz. Zwar könnte es einem Haushalt an sich egal sein, woher das Einkommen kommt, aber da die Vermögen so stark konzentriert sind, bedeutet das, dass Vermögenseinkünfte nur einen sehr kleinen Teil der Haushalte betreffen.
Grundsätzlich gebe es die Tendenz zu mehr Ungleichheit bei den Einkommen durch die lange Zeit steigende Arbeitslosigkeit, die vor allem durch die Finanzkrise verstärkt worden sei, erklärt der Arbeiterkammer-Experte. Und bei vielen Menschen, gerade jungen Leuten, Frauen, Migranten, die eine sehr schlechte Arbeitsmarktsituation haben, sei der Aufschwung auch heute noch nicht angekommen. Die oberen Einkommensgruppen weiten ihre Einkommensanteile aus, die unteren verlieren tendenziell – vor allem durch unterbrochene Erwerbskarrieren oder Teilzeitarbeit.
Hanno Lorenz, Projektleiter bei der wirtschaftsliberalen Denkfabrik Agenda Austria, weist darauf hin, dass die Einkommensverteilung in den heimischen Haushalten seit 2008 trotz der Krise nicht ungleicher geworden sei. Dies, obwohl es sogar eine Reihe von Faktoren gebe, die die Verteilung eher auseinandertreiben. So führt der demografische Wandel dazu, dass mehr Leute in die mit Einkommensverlusten verbundene Pension gehen. Gerade durch die bald in den Ruhestand tretenden zwischen 1960 und 1970 geborenen Babyboomer werde die Ungleichverteilung der Einkommen deutlich steigen. Hinzu kämen der in Österreich stark ausgeprägte Trend zur (laut Eurostat-Daten zu 88 Prozent freiwilligen) Teilzeitbeschäftigung und die Tendenz zu kleineren Haushalten. Auch diese Phänomene erhöhten die Ungleichheit, obwohl sie eigentlich Ausdruck des Wohlstands bzw. die Früchte eines gut funktionierenden Wohlfahrtsstaats seien.
Es gibt also eine sehr starke Vermögensschieflage und tendenziell auseinanderdriftende Einkommen – und trotzdem ist die wirtschaftliche und soziale Ungleichheit in Österreich deutlich geringer als in den meisten anderen EU-Staaten. Kein Paradox.
Der soziale Ausgleich funktioniert und relativiert die Botschaften von der weiter wachsenden Ungleichheit. Über den Sozialstaat holen sich Millionen Österreicher ohnedies seit Jahrzehnten, was ihnen – wenn man so will – zusteht. Ohne diese staatliche Umverteilung liegt der Gini-Index in Österreich beim Einkommen bei 0,48. Dank des massiven sozialstaatlichen Ausgleichs liegt er unter Einrechnung der staatlichen Eingriffe bei 0,28, was Österreich fast zum Musterschüler auf der europäischen Gleichheitsskala macht. Der Gini-Index gilt als Maßzahl für die Ungleichheit einer Gesellschaft. Je näher dieser bei eins liegt, desto ungleicher ist eine Gesellschaft, je mehr er sich null annähert, desto egalitärer. Der Gini-Index bei den österreichischen Vermögen liegt bei 0,73 und ist nur in drei anderen Ländern der Eurozone höher.
Österreich hat eine relativ ungleiche Primäreinkommensverteilung, aber die Umverteilung des Sozialstaats ist eindeutig und führt uns dazu, dass die Österreicher beim verfügbaren Einkommen – nach Abfuhr der Steuern und nach Bezug von Transfers und sozialen Dienstleistungen – im europäischen Vergleich eine relativ gleiche Verteilung haben, wie Marterbauer erläutert. Das Steuer- und Abgabensystem wirke insgesamt kaum umverteilend. Der Ausgleich er-