Hang the Kaiser!
ALEXANDRA BLEYER Als Alfred Harmsworth, seit 1905 Baron Northcliffe, Ende des 19. Jahrhunderts in das Zeitungsgeschäft einstieg, konzentrierten sich Traditionsblätter wie die „Times“auf einen exklusiven Leserkreis von etwa einer halben Million Leser: Aristokraten und Angehörige des gehobenen Bürgertums, die bevorzugt in den elitären Londoner Gentlemen’s Clubs die Zeitungen studierten. Um die restlichen fast 40 Millionen Briten habe sich, so Northcliffe, kein Verleger geschert.
Doch der Markt war im Umbruch begriffen. Die aufkommenden neuen Massenzeitungen bedienten das Kleinbürgertum und die Arbeiterschaft. In England als „popular press“und in den USA als „yellow press“bezeichnet, bürgerte sich im deutschsprachigen Raum der Name „Boulevardpresse“ein, da die Zeitungen vorrangig für den Straßenverkauf bestimmt waren. Um die Massen zu erreichen, musste man den Massengeschmack treffen. Berufstätige hatten wenig Zeit, sodass die Beiträge knapp gehalten wurden. Die politische Berichterstattung wurde gekürzt und schärfer im Ton, dafür räumte man unterhaltsamen Themen mehr Platz ein. Sport, Kriminalfälle, Katastrophen und Kuriositäten, Klatsch und Tratsch, aber auch Modetipps und Kochrezepte füllten die Seiten.
Der „New Journalism“setzte auf eine lebhafte Sprache; Fotos und Karikaturen lockerten die Berichte auf. Interviews und Augenzeugenberichte sorgten dafür, dass Reportagen lebensnah wirkten.
Mochte man in den vornehmen Clubs die Nase über die „Revolverpresse“mit ihren reißerischen Schlagzeilen rümpfen: Der Erfolg gab ihr recht. Northcliffes 1896 gegründete „Daily Mail“, als „The Busy Man’s Daily Journal“beworben, entwickelte sich zum auflagenstärksten Blatt der britischen Presse. Gemeinsam mit seinen Brüdern Harold und Lester, die ebenfalls mehrere Zeitungen ihr Eigen nannten, stand Northcliffe einem gewaltigen Medienimperium vor. 1908 kaufte ausgerechnet er, einer der Mitbegründer der Boulevardpresse, die konservative „Times“auf, die durch die neue Konkurrenz wirtschaftlich ins Straucheln geraten war. 1921 machten die Medien im Familienbesitz ungefähr ein Drittel der Gesamtauflage der britischen Presse aus.
Ein Machtfaktor, wie Northcliffe nur zu gut wusste. Während sich beispielsweise in den USA Joseph Pulitzer, der Eigentümer der „New York World“und ein Vorbild, auf Skandale stürzte, Missstände aufzeigte und die Politik zum Handeln zwingen wollte, nutzte Northcliffe seine Medien von Anfang an als Sprachrohr für die Conservative Party, die ihm seine Pressearbeit 1905 mit der Nobilitierung dankte. Scharf bezog er gegen das Frauenwahlrecht Stellung und leitete eine Kampagne gegen den „National Insurance Act“ein; die Regierung sollte ihr Geld nicht für eine Sozialversicherung ausgeben, sondern in die seiner Ansicht nach sehr viel wichtigere Aufrüstung investieren.
Vehement trat er für den britischen Imperialismus ein und sah vor allem in den Deutschen den großen Gegner. Lange vor dem Ersten Weltkrieg schworen seine Zeitungen die britische Öffentlichkeit auf den Feind ein, beispielsweise mit den in der „Daily Mail“erscheinenden Fortsetzungsromanen von William Le Queux, welche bewusst die Angst vor Spionen und einer deutschen Invasion schürten.
Kein Wunder, dass seine Zeitungen im Ersten Weltkrieg bereitwillig die Kriegsverbrechen der Deutschen in Belgien aufgriffen und die antideutsche Stimmung durch exzessive Gräuelpropaganda verstärkten. Das lag durchaus im Interesse der britischen Regierung. Allerdings schreckte Northcliffe – der als intrigant galt – nicht davor zurück, auch Politiker und sogar einen gefeierten Kriegshelden wie den zum Kriegsminister avancierten Lord Herbert Kitchener öffentlich heftig zu kritisieren.
Als David Lloyd George Ende 1916 britischer Premierminister wurde, bremste er die publizistischen Querschüsse des Pressebarons geschickt dadurch aus, dass er ihn ins Boot holte: Northcliffe wurde die Leitung der Feindpropaganda im Crewe House übertragen. Statt die Regierung und Militärführung zu torpedieren, sollte er seine Angriffslust auf den Feind richten. Im April 1918 begann unter Northcliffes Leitung unter anderem eine Propagandakampagne gegen Österreich-Ungarn. Mehr als 600 verschiedene Flugblätter in acht Sprachen und in einer Auflage von mehr als 60 Millionen Stück wurden beispielsweise mit Fesselballons hinter die feindlichen Linien befördert, um die Soldaten zum Aufgeben zu bringen.
Das Ende des Krieges bedeutete ein Ende der offiziellen britischen Propaganda, aber für Northcliffe ging der Krieg weiter. Obwohl die Deutschen Wilhelm II. gestürzt und das Deutsche Reich in eine Demokratie (Weimarer Republik) umgewandelt hatten, dürfe man ihnen nicht trauen. Northcliffes Zeitungen starteten Ende 1918 eine Kampagne, in der die Ausweisung in England lebender Deutscher („enemy aliens“), hohe Reparationszahlungen und die Bestrafung Wilhelms II. gefordert wurden. Weitere konservative britische Medien schlossen sich an und forderten von der Politik ein rigoroses Vorgehen.
Die Erregung der veröffentlichten Meinung hätte ein Sturm im Wasserglas sein können, hätten sich die Politiker nicht im Wahlkampf befunden. Harold Harmsworth, Lord Rothermere, der nach dem Tod des älteren Bruders die Leitung des Medienimperiums übernommen hatte, behauptete später, von der Unterstützung seiner Medien hänge ab, wer Premierminister werde. Damit dürfte er seine tatsächliche Macht überschätzt haben. Massenmedien bestimmen nicht (direkt), was Menschen denken und welche Partei sie wählen. Aber mit ihrer Berichterstattung und ihrem Ton beeinflussen Medien das Meinungsklima; sie können Feindbilder verstärken und Hass schüren. Vor allem aber bestimmen Medien durch Themenauswahl und Schwerpunktsetzung, welche Inhalte vom Publikum als wichtig eingestuft und diskutiert werden (AgendaSetting-Theorie).
1918 wollten weder Konservative noch Liberale die Außenpolitik zum Wahlkampfthema machen, sondern die wichtigeren innenpolitischen Reformen. Durch die Pressekampagnen richtete sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit jedoch auf die Abrechnung mit Deutschland.
In den Wochen bis zur Wahl schaukelten sich die Forderungen der Presse und die Versprechen der Politiker gegenseitig hoch und schlugen sich in griffigen Parolen wie „Hang the Kaiser!“und „Make the Germans Pay!“nieder. Rache statt Versöhnung. Entsprechend eingeengt war der Handlungsspielraum der britischen Abgeordneten auf der Pariser Friedenskonferenz; da sie aufgrund der Rufe nach einem Revanchefrieden gewählt worden waren, trug der Friedensvertrag von Versailles deutlich diese Handschrift – und befeuerte den Wunsch nach Revanche aufseiten der Gegner. Alexandra Bleyer:
In Wahlkämpfen und im Krieg mischen gerade auch Boulevardzeitungen kräftig mit, wie der britische Pressebaron Northcliffe schon vor einem Jahrhundert unter Beweis stellte. Er hatte vor allem die verhassten Deutschen im Visier.