Schon wieder ändern sich die Zeiten
Eine Rückkehr an Orte der Kindheit stimuliert einen großartigen Erzähler.
Wenn Gerhard Köpf ins Erzählen kommt, hört er so schnell nicht mehr auf. Eine Geschichte führt zur nächsten, immerhin soll nichts Geringeres geleistet werden als die Erinnerung an eine Zeit, die sonst restlos verschwinden würde.
Niemand wüsste mehr etwas von der Baronin, die als die Letzte eines verarmten Adels in einer desolater werdenden Villa hauste und sich durch Noblesse und Starrsinn auszeichnete. Der Erzähler kennt sie nur als alte, gebrechliche Dame, die „im strengen Winter 1954“umgekommen ist beim Versuch, ihren längst verschwundenen Kammerdiener im Keller zu finden.
Früher war sie resolut, jedenfalls gelang es ihr, auf ein Recht aus Kaiserzeiten pochend, sich der Steuerpflicht zu entziehen. Sie hielt es mit den Siegern und fuhr gut damit. Früh erkannte sie, dass die Nazis an die Macht kommen würden, und machte gemeinsame Sache mit ihnen. Früh auch kapierte sie, dass aus dem Endsieg nichts werden würde, und schlug sich auf die Seite der Alliierten.
Solche eigensinnigen Charaktere faszinieren den Erzähler. Sie tanzen aus der Reihe und verfügen über einen Sturschädel, an dem andere zuschanden gehen. Sie prägen das Dorf, von dem aus der Erzähler in die weite Welt aufgebrochen ist, um zu studieren und eine Karriere im Rundfunk zu beginnen. Er reiht kleine Erzählperlen aneinander, und immer lesen wir von Leuten, die stark abweichen vom kollektiven Geist einer Gesellschaft. Solche Menschen sind heute, damals schon rare Exemplare, schon nicht mehr zu finden. Im Abstand von vielen Jahren wirken sie nicht der bekannten Welt zugehörig, sondern dem Reich der Legenden. So lesen sich einzelne Erzählstücke auch wie säkularisierte Heiligenlegenden fragwürdiger Charaktere, die zwar eigen, aber so übel auch wieder nicht sind.
Eine Melancholie schwebt über den Episoden, weil sie unter dem Zeichen der Unwiederbringlichkeit stehen. Dabei lässt sich keineswegs sagen, dass die Zeiten besonders gut waren, denen hier nachgespürt wird. Aber: „Es ist die Zeit, in der wir jung gewesen sind.“
Sosehr der Erzähler in seinen jungen Jahren vom Optimismus beseelt war, er scheut sich nicht, die tragischen Seiten in einem Provinzdorf im 20. Jahrhundert aufzuschlagen. Die Menschen, auch das stellt er klar, können sich rasch zu einer hungrigen Meute formen, wenn sie ein gemeinsames Opfer finden, das sie der Zugehörigkeit zu ihrer Gruppe für unwürdig erachten. Die Melancholie gilt den jungen Jahren, als einer noch zu Hoffnungen berechtigte, die später, da der größte Teil an Lebenszeit verbraucht ist, als vergeudet gesehen werden.
Weit hat es der Erzähler nicht gebracht. Er muss sich abgeschoben fühlen auf das Nebengleis, die wichtigen Dinge geschehen anderswo. Im Rundfunk ist er zuständig für das Kalenderblatt, er schreibt Nachrufe auf bekannte Persönlichkeiten. Ein Mal in der Woche betreut er das „Zwölfuhrleuten“und reist dafür in kleine Ortschaften in Bayern. Er nimmt die Kirchenglocken auf und führt Gespräche mit dem jeweiligen Pfarrer, „eine halb italienische Madonna oder einen einheimischen Josef findet man fast überall.“
Und dann bekommt er den Auftrag, ins Dorf der 13 Dörfer zu fahren, den Ort seiner Kindheit. Dort angekommen, kommt er nicht umhin, den Sturm der Erinnerungen zu ordnen. Der Verfasser, ein abgeräumter Journalist in Statistenrolle. Das Dorf, ein neumodisch aufgetakelter vergangenheitsvergessener Unort. Zuerst gab es das Waschhaus, ein Gebäude aus finsteren Zeiten. Daraus wird nach dem Zweiten Weltkrieg ein Bahnhofskiosk, um keine zwei Jahrzehnte später einem Info-Point für Touristen zu weichen. Der Erzähler ist angekommen im Zeitalter der Geschmacklosigkeit und leidet darunter.
Der Roman erzählt von den schleichenden Veränderungen. Das äußere Erscheinungsbild des Ortes wechselt, die Niedertracht bleibt dieselbe. Keine guten Aussichten, das ist aber blendend in Literatur überführt.