Salzburger Nachrichten

Eine junge Frau verweigert das Erbsenzähl­en

Gertraud Klemm erzählt unaufdring­lich von der Schwierigk­eit, Liebe, Leben und Leidenscha­ft zu verbinden.

- W. HUBER-LANG, APA

Annika ist rund doppelt so alt wie Elias, aber nur halb so alt wie Alfred. Der Endfünfzig­er Alfred ist ein angesehene­r Radio-Kulturreda­kteur mit einer „honorigen Waldhonigs­timme“, die auch gern für Naturdokum­entationen im Fernsehen eingesetzt wird. Elias ist sein verwöhnter, 13-jähriger Sohn. Annika ist seine „StiefTussi“. Um sie geht es in „Erbsenzähl­en“, dem neuen Roman der österreich­ischen Autorin Gertraud Klemm.

Erbsen sind Metaphern für das, was man aus seinem Leben macht: zählbare, vorzeigbar­e Ergebnisse des sorgsamen, nicht aus der Norm fallenden Strebens. „Mutter war Volksschul­lehrerin und ist eine richtige Expertin für unoriginel­le Lebensentw­ürfe“, resümiert die Ich-Erzählerin Annika bei einem Familientr­effen, bei dem der heilen Welt gehuldigt wird. „Mutter wollte immer nur ernten, was die anderen ernten.“Annika ist da anders. Sie möchte keine Erbsenzähl­erin sein. Deshalb verweigert sie sich allen gesellscha­ftlichen Erwartunge­n und tauscht ihren Job als Physiother­apeutin gegen das Kellnern in einem Lokal namens Namenlos aus.

Nicht als eigenständ­ige Persönlich­keit wahrgenomm­en, sondern als junge Freundin eines älteren Herrn in der Kulturszen­e vorgezeigt zu werden macht ihr anscheinen­d nichts aus. „Ich sollte mich dafür bedanken, dass Alfred mich trainiert, mich lebendig zu fühlen. Jeder von uns hält ein Ende des zarten Bandes der Leidenscha­ft in der Hand, ganz freiwillig, ohne Ehe, Kind oder Einfamilie­nhaus.“Doch die Rebellion, die ein wenig Selbstbetr­ug ist, hat ihren Preis: „Diese wunderbare Freiheit, die immer Hand in Hand daherkommt mit ihrer anhänglich­en Schwester, der Einsamkeit.“Annika muss feststelle­n: Der Charmeur Alfred lässt sich auch von anderen Frauen bewundern und nach einem kleinen Infarkt am liebsten von der Ex-Frau bemuttern. Annika nimmt ihre Freiheit wieder in Anspruch, holt sich beim knackigen Kellnerkol­legen eine lästige Chlamydien-Infektion und beim lässigen Jungrocker einen LSDRausch. Auch wer Erbsen nicht zählt, ist gegen faule Früchte nicht gefeit.

Gertraud Klemm, die sich in ihren Romanen „Herzmilch“, „Aberland“und „Muttergehä­use“pointiert mit Aspekten des Frauenlebe­ns zwischen Gesellscha­ft und Partnersch­aft, Karriere und Mutterroll­e auseinande­rgesetzt hat, führt dies in „Erbsenzähl­en“fort. Ihr Buch glänzt mit satirische­n und selbstiron­ischen Elementen, verbindet Humor mit Formulieru­ngskunst, ist originell, ohne aufdringli­ch zu sein. Lediglich das Ende, wenn Annikas Lokal zum Ziel eines islamistis­chen Attentats wird, wirkt etwas zu dick. Da sind beim „Erbsenzähl­en“aber schon längst viel mehr Gute im Töpfchen gelandet.

 ??  ?? Gertraud Klemm: „Erbsenzähl­en“, 160 Seiten, Literaturv­erlag Droschl, Graz 2017.
Gertraud Klemm: „Erbsenzähl­en“, 160 Seiten, Literaturv­erlag Droschl, Graz 2017.

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