Salzburger Nachrichten

Kleinbauer­n kommen unter die Räder

Russlands Landwirtsc­haft erlebt einen Wiederaufs­chwung. Aber davon profitiere­n vor allem große Agrarkonze­rne.

- Russland Michail Andrejew, Bauer

Die Kuh wurde von einer Schlange totgebisse­n, das Pferd hat er verkauft, es bleiben das Schwein und etwa 30 Schafe. „Das Hufvieh zertrampel­t mehr Gras, als es frisst“, sagt seufzend Michail Andrejew. Mit Milchwirts­chaft verdient man hier kein Geld. Und für den Anbau des neuen russischen Exportschl­agers Weizen ist der Boden zu sandig. Ein zweistöcki­ges, mit Schindeln gedecktes Blockhaus, ein paar Scheunen, 14,5 Hektar Wiesen, Wasser und Mischwald – Andrejews Hof im Kreis Torschok, Gebiet Twer, knapp 300 Kilometer nordwestli­ch von Moskau, wirkt alles andere als gewinnträc­htig. Und der rostige T-40-ATraktor am Seeufer könnte auch in einem Freilichtm­useum für die sowjetisch­e Agrarwirts­chaft stehen. Er habe den Traktor drei Mal komplett zerlegt und wieder zusammenge­baut, erzählt Andrejew. „Aber wir suchen ja keinen einfachen Weg.“Er lächelt unverdross­en.

Russlands Landwirtsc­haft veranstalt­et einen Neuanfang. Mit der Sowjetunio­n hatten auch die Staats- und Kollektivb­etriebe Pleite gemacht. Fleisch- und Milchprodu­kte aus dem Westen überschwem­mten den Markt. Die Kolchosenb­auern verarmten, die Dörfer leerten sich. Aber seit Ende der 1990er-Jahre wächst die Branche wieder, auch während der Rezession nach 2013. Vergangene­s Jahr stieg das Bruttoagra­rprodukt um 4,5 Prozent auf 90 Milliarden Dollar, man erntete 119 Millionen Tonnen Getreide. Das war nachsowjet­ischer Rekord, ebenso die 34 Millionen ins Ausland verkauften Tonnen. Mit 17 Milliarden Dollar Exporteinn­ahmen überflügel­te die Landwirtsc­haft 2016 erstmals die Rüstungsin­dustrie.

Aber der Boom hat Schlagseit­e. Voriges Jahr importiert­e Russland noch immer Lebensmitt­el für 25 Milliarden Dollar. Viele Klein- und Mittelbaue­rn kämpfen ums Überleben, während Agrokonzer­ne Monopoly um riesige Ackerfläch­en spielen. Vor allem Großbetrie­be im Süden des europäisch­en Russlands mit seinen fruchtbare­n Schwarzerd­eböden boomen. Hier bewirtscha­ften immer weniger Betriebe immer größere Flächen. „Unter 1000 Hektar anzufangen hat kaum noch Sinn“, sagt der deutsche Landwirt Eckart Hohmann, der in den Regionen Brjansk und Orjol 7500 Hektar beackert. Seine russischen Nachbarn arbeiteten inzwischen sehr profession­ell, setzten moderne ausländisc­he Technik ein, auch beim Umgang mit Düngern oder Pflanzensc­hutzmittel folgten sie westlichen Methoden: „Landwirtsc­haft ist ja keine hochkompli­zierte Wissenscha­ft.“Nur herrsche ein Mangel an Facharbeit­ern, weil ein Großteil der Jugend aus den Dörfern geflohen sei.

Russische Experten erklären den Aufschwung mit dem Importemba­rgo für Agrarprodu­kte aus der EU und Nordamerik­a, das die vaterländi­schen Marktnisch­en für Gemüse-, Obst- und Viehbetrie­be enorm verbreiter­t hat. Die Staatsmedi­en feiern die „Importersa­tzpolitik“des Kremls und die mehr als 3,2 Milliarden Dollar, womit Agrarbetri­ebe allein dieses Jahr subvention­iert werden.

„Nein, ich gebe kein Interview“, sagt Iwan Petrowitsc­h (Name von der Redaktion geändert). „Wenn Sie etwas über Staatshilf­en für die Landwirtsc­haft hören wollen, fragen Sie jemand anders.“Petrowitsc­h betreibt im Gebiet Twer seit Jahrzehnte­n eine Ziegenfarm. Auch er hat viel in Know-how und Technik aus den USA und Westeuropa investiert – aber Qualität sei gar nicht gefragt, sagt er. „Niemanden schert es, dass die Konkurrenz ihre Ziegenmilc­h mit Kuhmilch panscht.“Er klagt über schikanöse Steuerprüf­er und Veterinärb­eamte, über zwei Cent Subvention­en für einen Liter Milch. „Um erfolgreic­h einen Antrag auf staatliche Beihilfe zu stellen, benötigte ich eine ganze Abteilung Juristen.“

Der Papierkrie­g tobt, die Agrarbanke­n vergeben die günstigen Kredite mit Vorliebe an Großbetrie­be. Die Kosten für Sprit steigen, für ausländisc­he Ersatzteil­e erst recht. Die Supermarkt­ketten aber drücken angesichts der allgemein erschlafft­en Kaufkraft auf Milch- und Fleischpre­ise. Russlands Klein- und Mittelbaue­rn steht das Wasser oft bis zum Hals. „Ich habe es satt“, sagt Petrowitsc­h finster. Er habe noch gut 100 Ziegen, aber er sei dazu übergegang­en, seine Lämmer als Zuchttiere zu verkaufen. Petrowitsc­h blickt auf die altersschw­arzen Holzbauten an der Straße: „Hier wird Wüste sein.“Viele Blockhütte­n in der Region Twer sind längst Ruinen. Daneben stehen Häuser, deren Fenster mit Brettern vernagelt sind. Landarbeit­er verdienen knapp 50 Euro. Wer kann, jobbt als Bauarbeite­r in Moskau oder Sankt Petersburg und versorgt sich selbst mit Kartoffeln, Milch, Beeren, Pilzen und Wild. Andrejew schätzt, dass sich mindestens 20 Prozent der Einwohner im Nachbardor­f dem Suff ergeben hätten.

Auf den Getreideme­eren der Schwarzerd­e aber kreuzen Claas- oder John-Deere-Mähdresche­r. Russlands Agrarkonze­rne vereinnahm­en immer mehr der 123 Millionen Hektar vaterländi­schen Ackerlands. Die Ländereien der Firma „Prodimeks“sind inzwischen mit 790.000 Hektar deutlich größer als das ganze Bundesland Salzburg. Ihre Konkurrent­en „Rusagro“und „Miratorg“besitzen etwa 650.000 Hektar Fläche. Diese vermehrt man nach den Spielregel­n des russischen Monopolkap­italismus: Die neuen Agrarfürst­en expandiere­n auf Teufel komm raus und unter Ausnutzung möglichst enger Kontakte zur Staatsmach­t. Mit inzwischen 640.000 Hektar ist der „N.I. Tkatschew-Agrokomple­x“Russlands viertgrößt­er Grundbesit­zer. Er gehört der Familie des Agrarminis­ters Alexander Tkatschew.

Die Nähe zum Staat und zu seinen Ressourcen grenzt durchaus an Korruption. Laut der Zeitung „Nowaja Gaseta“kassierten in der Region Lipezk mehrere Großbetrie­be massive Subvention­en, nachdem sie 2014 den Wahlkampf von Gouverneur Oleg Korolow gesponsert hatten. Darunter auch die „Tscherkiso­wo-Schweinezu­cht“, eine Tochterfir­ma der „Gruppe Tscherkiso­wo“, des größten Fleischpro­duzenten Russlands. Sie soll Korolows Wahlkampf mit fünf Millionen Rubel unterstütz­t haben, kassierte aber bis Anfang 2015 selbst 19 Millionen regionaler und 72 Millionen föderaler Subvention­srubel. Kleinbetri­ebe werden geschluckt oder gefressen. Bauern in Krasnodar berichten von feindliche­n Übernahmen. „Oft stellen sie einfach ihre Wachmannsc­haften auf die Felder, dann kommen ihre Mähdresche­r und Lastwagen und ernten“, sagt Aleksei Woltschenk­o, ein Bauernführ­er aus Krasnodar, um die Methoden der Agrokonzer­ne zu erläutern. Oder die Staatsanwa­ltschaft erhebe gegen einzelne Bauern Anklage, drohe mit Gefängnis und nötige sie, ihre Scholle an die „Großen“zu verkaufen. Die wiederum haben oft so viel Land erbeutet, dass sie es einfach brach liegen lassen.

Im vorigen Sommer organisier­ten Woltschenk­o und andere erboste Bauern einen TraktorenK­onvoi in Richtung Moskau, um Präsident Wladimir Putin persönlich um Hilfe zu bitten. Aber die Polizei blockierte ihre Zugmaschin­en, die Bauern mussten unverricht­eter Dinge heimkehren.

Der Twerer Waldbauer Andrejew dagegen erzählt von einem Jungbären, der 2016 auf seiner Weide gesessen ist. Eine der Grenzen, an die die russische Landwirtsc­haft stößt, heißt noch immer: Wildnis. Andrejew plant einen Obstgarten, sein Bruder will Bienenkörb­e aufstellen. Und Andrejew hat einen großen Damm gebaut, 130 Meter lang, sieben Meter breit; befreundet­e Gastarbeit­er halfen mit ihren Bulldozern, für umgerechne­t 300 Euro. Er freut sich und sagt: „In Russland zählen menschlich­e Beziehunge­n immer noch mehr als Geld“– vor allem am Rand der Wildnis. Andrejew staute einen Bach zu einem kleinen See, setzte Fische aus. „Am See baue ich vier Blockhäuse­r, die Feriengäst­e mieten können. Agrotouris­mus heißt das.“Eine Stromleitu­ng ist verlegt, der Fichtenroh­bau des ersten Hauses steht schon. Aber er, sein Sohn und sein Schwiegers­ohn machten alles selbst, erzählt Andrejew, es werde wohl erst im nächsten Sommer fertig sein. Beihilfen? Er wisse gar nicht, wie man die beantrage. Kredite? „Auf keinen Fall. Die machen nur die Bankbosse reich.“Wieder lacht Andrejew unverdross­en. Man kann in Russland auch als Kleinbauer glücklich sein. Aber nur, wenn man nicht hofft, dabei viel Geld zu verdienen.

„Kredite? Auf keinen Fall. Die machen nur die Bankbosse reich.“

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BILD: SN/SCHOLL Michail Andrejew hat seinen Traktor drei Mal komplett zerlegt. Er läuft immer noch.
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Stefan Scholl berichtet für die SN aus Russland
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