Im Dorf der Vergesslichen
Erst vergisst man die Schlüssel, später den Heimweg, dann die Namen der Kinder. Demenz ist eine tückische Krankheit. In Dänemark leben Betroffene in einem besonderen Dorf.
Ove Hansen ist der Hühner-Flüsterer. Am Nachmittag kommen sie in sein Wohnzimmer, sitzen auf seinem Schoß. „Sie schauen gern fern“, sagt der 58-Jährige mit dem Rauschebart. Sieben Eier habe er heute früh gesammelt. „Ein guter Tag.“Ein guter Tag auch, weil sich Hansen am Nachmittag noch an die Eier vom Morgen erinnert. Das ist nicht selbstverständlich, hier im Demenzdorf im dänischen Svendborg.
Demenz, das beschreiben Betroffene als schwarze Löcher im Gedächtnis, als Konfetti im Kopf. Das Gehirn verliert an Leistung, es ist eine der häufigsten Erkrankungen im Alter. Der Weltalzheimertag am 21. September soll auf das Thema aufmerksam machen. Laut Österreichischer Alzheimer Gesellschaft sind etwa 100.000 Österreicher betroffen. 2050 wird diese Zahl auf etwa 230.000 angestiegen sein.
Am Anfang bekommen viele Betroffene noch mit, dass etwas nicht stimmt. Später leben sie in einer Alternativwelt. Was einmal selbstverständlich war, funktioniert plötzlich nicht mehr. Körperlich sind viele aber so fit, dass normale Pflegeheime ihnen nicht gerecht werden.
Die Kommune Svendborg auf der dänischen Insel Fünen hat deshalb ein Dorf für 125 Demenzkranke eingerichtet: eine Stadt in der Stadt, mit Friseur, Café und Teich. Hier kann man in der eigenen Wohnung leben – und ist doch geschützt.
„Wenn ich im Park laufen will, laufe ich im Park“, sagt die 81-jährige Jytte Voigt bestimmt. Jytte spricht noch immer fließend Englisch – doch von einem Spaziergang würde sie wohl nicht zurückfinden. Im Demenzdorf kann sie nicht verloren gehen. Es ist paradox: Der Zaun am Ende von Straße und Park gibt den Bewohnern Freiheit. Die meisten nehmen ihn gar nicht wahr.
„Es ist ein guter Weg, den Menschen ein normaleres Leben zu geben“, sagt Svendborgs Bürgermeister Lars Erik Hornemann. Das Demenzdorf sei Teil der Stadt, „aber einer, in dem die Menschen nicht die ganze Zeit beaufsichtigt werden müssen“. Die Bewohner sind zwischen 50 und 102 Jahre alt. Sie können spazieren gehen, sich zum Kaffee verabreden, einkaufen.
Demenzdörfer gibt es auch im niederländischen De Hogeweyk und in Deutschland in der Nähe von Hameln in Tönebön am See. Anders als dort aber sind die Demenzkranken in Svendborg nicht eingesperrt. „Das verbietet das Gesetz“, sagt Projektleiterin Annette Søby. Theoretisch kann jeder Bewohner rausgehen – wenn er den Ausgang findet. „Dann haben sie ein GPS, sodass wir sie im Notfall aufspüren können.“Viele aber sehen den gut versteckten Ausgang nicht. „Verglichen mit dem durchschnittlichen Pflegeheim sind Demenzdörfer ein Fortschritt“, sagt Susanna Saxl von der Deutschen Alzheimer Gesellschaft. Die Einrichtung müsse aber Teil der Nachbarschaft sein.
In einigen Demenzdörfern lebten die Bewohner in einer Scheinwelt wie in der „Truman Show“, sagen Kritiker. In dem Spielfilm mit Jim Carrey in der Hauptrolle weiß der Versicherungsangestellte Truman nicht, dass er Teil einer Fernsehserie ist und dass sein Leben seit seiner Geburt in einer Kulisse stattfindet. „Wir wollen keine Kulisse sein. Es geht doch um echte Menschen“, sagt Projektleiterin Søby. Deshalb gibt es im dänischen Demenzdorf eben echte Hühner, die echte Eier für echten Kuchen legen. „Hühner hatte ich schon immer“, sagt Ove Hansen. Daran kann er sich erinnern.