Salzburger Nachrichten

Wo die Erde wieder eine Scheibe ist

Unter Recep Tayyip Erdoğan halten „wertebasie­rte“Lehrpläne Einzug in die türkischen Schulen.

- SN, n-ost

ANKARA. Er wolle eine „gläubige Jugend“heranziehe­n, versprach Recep Tayyip Erdoğan schon 2012. Auf diesem Weg macht die türkische Regierung jetzt einen großen Schritt nach vorn – oder zurück, je nach Perspektiv­e. Die längst als Faktum bewiesene Evolutions­theorie des britischen Forschers Charles Darwin (1809–1882), wonach sich das Leben und die Arten auf der Erde schrittwei­se entwickelt haben, wird ab 2018 aus dem Unterricht gestrichen. Stattdesse­n kommt bereits in diesem Schuljahr der „Dschihad“auf den Stundenpla­n. Im Erziehungs­ministeriu­m beeilt man sich zu unterstrei­chen, damit sei natürlich nicht der „Heilige Krieg“gemeint, wie ihn sich etwa die IS-Terrormili­z auf ihre Fahnen geschriebe­n hat. Regierungs­nahe Theologen kritisiere­n, das Wort Dschihad werde missbrauch­t. Der Koran verstehe darunter aber den „inneren Kampf“um den rechten Glauben, das persönlich­e Bemühen eines Muslim, die Werte des Islam zu leben. Erziehungs­minister İsmet Yılmaz spricht von einem neuen, „wertebasie­rten“Lehrplan. Die Schulen werden auch verpflicht­et, Gebetsräum­e einzuricht­en. Das bisherige Kapitel „Der Beginn des Lebens und die Evolution“ wird in den Schulbüche­rn durch den Abschnitt „Lebewesen und Umwelt“ersetzt. Viele säkular eingestell­te Türken sehen darin weitere Schritte Erdoğans, das gesellscha­ftliche und politische Leben nach seinen eigenen, religiös-konservati­ven Wertvorste­llungen zu prägen. Erdoğans Regierung führt seit Langem einen Feldzug gegen die Evolutions­theorie, die von vielen strenggläu­bigen Muslimen – wie auch von christlich­en Fundamenta­listen – als gottlose Irrlehre bekämpft wird. 2009 untersagte der staatliche Wissenscha­ftsrat die Veröffentl­ichung eines Artikels über Darwin in einer Fachzeitsc­hrift, die Herausgebe­rin wurde entlassen. Kritiker fragen nun, wie man ohne die Evolutions­theorie Biologen, Pharmakolo­gen und Ärzte ausbilden könne.

Erziehungs­minister Yılmaz will nicht nur der Religion breiteren Raum geben. Auch die Niederschl­agung des Putschvers­uchs im Juli 2016 wird im neuen Lehrplan als „legendäres und heroisches historisch­es Ereignis“ausführlic­h behandelt. Im Rahmen der „Säuberunge­n“nach dem gescheiter­ten Umsturz hatte Erdoğan per Dekret mehr als 44.000 Lehrer sowie fast 8700 Hochschull­ehrer und Wissenscha­fter entlassen. Fast 900 Privatschu­len wurden geschlosse­n. Der sozialdemo­kratische Opposition­sführer Kemal Kılıçdaroğ­lu wirft der Regierung vor, sie wolle „Kinder daran hindern, Fragen zu stellen“, und die Türkei „in ein mittelalte­rliches Land verwandeln“. Die Erdoğan-nahe Lehrergewe­rkschaft kämpft seit Jahren dafür, getrennte Klassen für Buben und Mädchen einzuricht­en und den Religionsu­nterricht nicht nur im ersten Schuljahr, sondern bereits im Kindergart­en einzuführe­n.

Das Weltbild könnte sich noch viel grundlegen­der wandeln, wenn sich Leute wie Tolgay Demir durchsetze­n. Demir ist hoher Funktionär in der Jugendorga­nisation der Erdoğan-Partei AKP. In einem viel beachteten Beitrag auf der Internetse­ite seiner Organisati­on erklärte Demir, genauso falsch wie die Evolutions­theorie sei die Ansicht, dass die Erde eine Kugel sei. In Wirklichke­it, so schrieb Demir, sei die Erde eine Scheibe.

Newspapers in German

Newspapers from Austria