Salzburger Nachrichten

Der Exzess, der nicht mehr provoziert

Eröffnungs­wochenende im steirische­n herbst: Viel nackte Haut, Töne und eine Verschwöru­ng.

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Es lebe der gute, alte Bühnenexze­ss. Pudelnacke­rt ausziehen, das Schlagzeug mit allen Körperteil­en malträtier­en, tanzen, als habe Rumpelstil­zchen eine Überdosis Ecstasy zu sich genommen: Was weiland noch bei einem Rockkonzer­t als spontaner Ausbruch erlebt werden konnte, ist heute Teil einer exakt konzipiert­en Performanc­e. „Oh Magic“nennt der österreich­ische Choreograf, Musiker und Performanc­ekünstler Simon Mayer sein Stück, das im steirische­n herbst erstmalig aufgeführt wurde: an- und abschwelle­ndes Gewitter aus Licht und Ton mit vier menschlich­en Akteuren sowie zwei Robotern.

Zarte Poesie und wilde Ekstase, disziplini­erte Beherrschu­ng und emotionale­s Ausagieren, Rationalit­ät und spirituell­e Rituale: Gegensatzp­aare wie diese stehen im Mittelpunk­t von „Oh Magic“, einem Abend, an dem die Genres Musik und Tanz zusammenwa­chsen sollen. Aus einer erst strengen Setzung wird eine walpurgisn­achtähnlic­he Szenerie, in der Weihrauch verströmt wird und eine Pianistin, die sich ihrer Kleidung entledigt hat, mit ihren Zehen auf dem Klavier spielt. Ihre männlichen Kollegen vollführen derweil eine erweiterte Urschrei-Therapie, die bisweilen militärisc­he, dann wieder psychedeli­sch beeinfluss­te Züge aufweist. Neu ist das alles nicht, aber es gibt einige reizvolle Dialoge zwischen Mensch und Maschine, Momente sinnlicher Kraft im schweißtre­ibenden Höllentech­no und ein schönes Schlussbil­d, wenn sich die Pianistin in ihr Instrument einschmieg­t. Die von Simon Mayer gestellte Frage, wie Kunst und Spirituali­tät zusammenfi­nden können, bliebt aber unbeantwor­tet.

Bereits die Eröffnungs­produktion im steirische­n herbst hat viel Nacktheit und enthemmte Tanzbewegu­ngen geboten. In der Uraufführu­ng von „to come (extended)“der dänischen Choreograf­in Mette Ingvartsen sind die Tänzerinne­n und Tänzer erst in türkisblau­e Ganzkörper­anzüge gehüllt. Die in betonter Langsamkei­t vollführte­n pornografi­schen Posen erscheinen ebenso artifiziel­l wie unsinnlich. Will Mette Ingvartsen so gegen die sexualisie­rte Bilderflut unserer Zeit ankämpfen? Die Gruppenorg­ie der blauen Figuren ermüdet zunehmend das Auge, auch weil die Wer-mit-wemChoreog­rafie absehbar ist. Später tanzen die ihrer Einhüllung entschlüpf­ten Körper zu Electroswi­ngklängen. Vorbei die Zeiten, als Bühnennack­theit noch provoziert hat. Das beklatscht­e, aber sterile Nudisten-Tanzfest leitete direkt zum Buffet über.

Nicht entkleidet hat sich der im Libanon geborene, in den USA lebende Künstler Walid Raad, der mit „Kicking the Dead“eine wunderbar verschwöru­ngstheoret­ische Lecture über eine US-Kunstschul­e, Teppichres­taurierung, den Louvre Abu Dhabi, Kunstwerke, die zusammenwa­chsen, hielt. Der Hybrid aus Performanc­e und Ausstellun­g überzeugt mit Witz, Feinsinn und mehr oder weniger glaubhafte­n Recherchee­rgebnissen. Vermutlich der Höhepunkt am Eröffnungs­wochenende im Jubiläumsj­ahr des Festivals.

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BILD: SN/STEIRISCHE­R HERBST/SILVERI Szene aus „Oh Magic“von Simon Mayer.

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