Bildungsprozesse und ihre Grenzen
Ich beziehe mich auf einen klugen Beitrag von Ronald Barazon (SN, 23. 3., „Bildungsreformer mit Defiziten in Logik, Praxis und Politik“): Der Dauerpatient „Bildungsreform“überstand mit einigen Schwierigkeiten die Zentralmatura ohne irgendeine vorherige zentrale Prüfung. Die in Abständen immer wieder durchgeführten zentralen Bildungsstandardüberprüfungen an den Schnittstellen bleiben bis heute ohne nachvollziehbare Konsequenzen für Schüler, Lehrer und Schulleiter, obwohl die Ergebnisse seit Jahren Anlass zur Sorge geben. Viele Reformschritte betreffen Strukturen und/oder sind Reaktionen auf schlechte PISA- & OECD-Rankings – ein schlüssiges Gesamtkonzept existiert nicht. Der kostenintensive, flächendeckende und frühe Einsatz digitaler Endgeräte ohne didaktisch aufbereitete Inhalte ist zwar gut gemeint, aber wenig durchdacht. Die bereits eingeführte total „verkompetenzte“(Grund- und Erweiterungskompetenzen, Zusatzkompetenzen, Kompetenzpools, Clusterkompetenzen, Sozialkompetenz, Teamkompetenz …) und „verwaltungsauffällige“mo- dulare Oberstufe und die durch Team-Teaching und originelle Notenskala gekennzeichnete Neue Mittelschule haben sowohl inhaltlich als auch pädagogisch einiges an Verbesserungspotenzial.
Seit Jahren haben Österreichs Schulen bundesweit festgelegte personelle und strukturelle Rahmenbedingungen und auf Schultypen bezogene Lehrpläne. Die handelnden Personen – Schulleiter, Lehrpersonen, Schulpsychologen, Sozialarbeiter und Verwaltungspersonal – entscheiden seit 2017 autonom über Unterrichts- und Lernkonzepte sowie über zielführende Wege und Methoden und übernehmen dafür die volle Verantwortung. Die Qualität von Schulen, also der Grad der Erfüllung von Bildungsund Ausbildungsvorgaben, muss – ohne Wenn und Aber – in regelmäßigen Abständen zentral und extern gemessen werden und letztlich auch Konsequenzen für die Schulen bei fortgesetzter Nichterfüllung haben. Derzeit ist die Zentralmatura das einzige Messinstrument, nicht erfüllte Bildungsstandards oder internationale Tests wie PISA haben nur Informationscharakter. Die durchaus sinnvolle Individualisierung der Leistungsanforderungen hängt auch von zahlreichen nicht objektiv messbaren Faktoren ab – zum Beispiel Milieu beziehungsweise Vererbung, Ei- geninitiative, Ausdauer, Belastbarkeit und Selbstbewusstsein. Deshalb gibt es konkrete Bildungsstandards an den Schnittstellen mit klar definierten und nachvollziehbaren Mindestanforderungen pro Schultyp. In der einzigen österreichischen Gesamtschule – der Volksschule – unterschreiten seit Jahren zirka 15 Prozent die für die vierte Klasse festgelegten Bildungsstandards in Deutsch und Mathematik. Die von den Volksschullehrerinnen vergebenen Zeugnisnoten stimmen mit den Ergebnissen bei den Messungen der Bildungsstandards allzu oft nicht überein. Manche Lehrpersonen stellen das Leistungsprinzip bewusst oder aus reiner Bequemlichkeit infrage. Ihre Notenskala umfasst nur die Noten 1 bis 4.
Es ist zwar durchaus sinnvoll, den curricularen Schwerpunkten der Schulen entsprechend, Mindestleistungen in einem Bereich durch bessere Leistungen in anderen zu kompensieren, also Schwächen durch Stärken auszugleichen. Leistungen unter den Mindestanforderungen müssen jedoch auch als solche beurteilt werden. Kurt Riedl Lehrer und Sachbuchautor