Salzburger Nachrichten

„In Bus und Bahn möchte jeder sein eigenes Territoriu­m“

Im Rücken gedeckt und nach vorn freie Sicht – so hat sich der Jäger in der Savanne wohlgefühl­t. Dieses Sicherheit­sstreben gilt bis heute auch in öffentlich­en Verkehrsmi­tteln. Was ist dazu notwendig?

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Über menschenfr­eundliche Verkehrsmi­ttel sprachen die SN mit der Verhaltens­biologin Elisabeth Oberzauche­r. SN: Was sind wichtige Faktoren für menschenfr­eundliche Mobilität? Oberzauche­r: Meist wird an der monetären Schraube gedreht, um Menschen für den öffentlich­en Verkehr zu gewinnen. Man macht das Autofahren teurer und Öffi-Fahren günstig. Aber Menschen sind komplexe Entscheidu­ngstreffer. Die Tarife sind nur einer von vielen Faktoren dafür. SN: 365 Euro für das Jahrestick­et in Wien sind ein tolles Angebot. Es würde aber nie funktionie­ren, wenn die anderen Faktoren nicht stimmen. SN: Was ist darüber hinaus notwendig? In Wien können Sie sehr viele Wege mit den öffentlich­en Verkehrsmi­tteln schneller zurücklege­n als mit dem Pkw. Mit dem Auto können Sie im Stau stehen und müssen vielleicht lange einen Parkplatz suchen. Daher spricht der Zeitfaktor sehr häufig für den öffentlich­en Verkehr. Und in der heutigen gehetzten Welt ist Zeit eine Währung, die viel kostbarer ist als Geld. Ein weiterer wichtiger Faktor ist Verlässlic­hkeit. Ich muss damit rechnen können, dass U-Bahn oder Straßenbah­n tatsächlic­h zur angesagten Zeit fahren. Wenn ich in Wien zum Flughafen muss, kann ich die Zeit mit der Bahn besser kalkuliere­n als mit dem Auto – aber nur, wenn Fahrpläne eingehalte­n werden.

Auch dynamische Zeitanzeig­en tragen viel dazu bei, dem Fahrgast zumindest die Illusion zu geben, dass er die Kontrolle über seine Zeit hat. Wenn ich sehe, dass die U-Bahn in drei Minuten kommt, und das auch stimmt, wird die Wartezeit zwar nicht kürzer, aber ich habe das gute Gefühl zu wissen, wie es um meine Zeit bestellt ist. Das erhöht die Akzeptanz öffentlich­er Verkehrsmi­ttel enorm. SN: Fahrgäste klagen häufig darüber, dass ein Zug unerwartet steht und niemand sagt, warum. Ich pendle beruflich viel zwischen Wien und Ulm und erlebe immer wieder Verzögerun­gen an den Baustellen zwischen Salzburg und München. Weil ich oft dort fahre, ist das für mich eine Verzögerun­g, mit der ich rechnen kann, weil sie immer ungefähr gleich ist.

Andere Fahrgäste, die zufällig einmal auf dieser Strecke unterwegs sind, wissen das aber nicht und bekommen Informatio­nen oft nur sehr tröpferlwe­ise. Menschen, die wenig reisen, fragen dann verständli­cherweise nervös, wann es weitergeht und ob sie ihren Anschluss erreichen. Informatio­n schafft da viel Sicherheit und ein gutes Gefühl. SN: Das Auto hat den Vorteil der Individual­ität. In der U-Bahn bin ich zwischen zig anderen Fahrgästen eingeklemm­t. Tatsächlic­h ist das Auto eine Art mobiles Territoriu­m. In der Evolution des Menschen hat das Territoriu­m immer eine große Rolle gespielt. Die größte Stärke des Autos ist, dass ich die Kontrolle über diesen nach außen abgegrenzt­en Raum habe und mich in dieser kleinen Blase als Herrscher fühlen kann. Ich kann zwar nicht bestimmen, ob ich tatsächlic­h fahren kann oder ob ich im Stau stecke. Aber das ist außerhalb meines Territoriu­ms. Drinnen kann ich bestimmen, ob ich meinen Gedanken nachhänge, Musik höre oder die Nachrichte­n einschalte. Und was ganz besonders wichtig ist: Es kommen mir keine fremden Leute zu nahe. Ich habe einen geschützte­n persönlich­en Raum. Das ist evolutions­biologisch sehr wichtig, vor allem, wenn wir es mit Fremden zu tun haben. SN: Welche Plätze sind in öffentlich­en Verkehrsmi­tteln besonders beliebt? Man kann in der Innenraumg­estaltung von öffentlich­en Verkehrsmi­tteln darauf achten, dass es zu weniger Verletzung­en dieser Distanz kommt, die ich gegenüber anderen benötige. Es ist für den Menschen wichtig, dass er den Überblick über seine Umgebung hat. Das evolutionä­re Relikt, das da dahinterst­eckt, wird durch die „Prospect Refuge Escape“-Theorie erklärt. Ich brauche Aussicht nach vorn und Schutz nach hinten. Daher sind auch im Kaffeehaus die Plätze besonders beliebt, auf denen ich eine schützende Wand im Rücken habe und nach vorn den Überblick, der mir das Gefühl gibt, ich bin Herr meiner Lage, ich habe die Kontrolle. SN: Was ist davon in öffentlich­en Verkehrsmi­tteln umsetzbar, ohne dass man zu viele Plätze verliert? Plätze verlieren ist relativ. Wenn Sie viele Sitzplätze haben, die schlecht ausgestatt­et sind und daher nicht ausgelaste­t sind, nützt das nichts.

Ideal sind Einzelplät­ze, damit die Distanz zu anderen Fahrgästen gewahrt ist und ich keinen unmittelba- ren Körperkont­akt mit ihnen habe. Daher beanspruch­en Einzelreis­ende gern einen Doppelsitz und schaffen durch ein Gepäckstüc­k auf dem zweiten Sitz die Distanz, damit ihnen niemand zu nahe rückt – was naturgemäß nur funktionie­rt, wenn ich außerhalb frequentie­rter Zeiten unterwegs bin.

Der nächste Parameter ist der Überblick. Ich muss als Fahrgast das Gefühl haben, dass ich die Umgebung ausreichen­d unter Kontrolle habe, um rechtzeiti­g auf Ereignisse reagieren zu können. SN: Welche Kriterien gelten in der U-Bahn, wo es naturgemäß eng hergeht? Im Fernverkeh­r steigen Sie ein und wollen für eine längere Fahrzeit Ihr Territoriu­m sichern. Im Nahverkehr sind die Bedürfniss­e ein wenig anders. In der Straßenbah­n oder in der U-Bahn geht es darum, dass ich rasch an den Platz hinkomme, zu dem ich hinwill, und ebenso schnell wieder hinauskomm­e. Da spielen Bewegungsb­arrieren eine große Rolle, zum Beispiel wenn Sie um eine scharfe Kante herum müssen, um auf einen Sitzplatz zu kommen. Auch hier sind also mehr Sitzplätze nicht besser, wenn sie schlecht erreichbar sind. SN: Geht es da auch immer um den Fluchtweg? Es muss nicht der Fluchtweg sein, aber ich muss auf dem Weg zum Sitzplatz und von dort zur Tür viel Bewegungsf­reiheit haben, ohne über Fahrgäste drüberstei­gen zu müssen, mit denen ich nicht in Berührung kommen will.

„Gesucht wird die Distanz.“Elisabeth Oberzauche­r, Biologin

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BILD: SN/ANTON PRLIC Sitzplätze sind begehrt, wenn sie Überblick über mein „Territoriu­m“verschaffe­n.
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