„Es geht um das Gefühl für Zahlen“
Computer können Aktienkurse viel schneller kalkulieren als jeder Börsenmakler. Was bringt ein guter Mathematikunterricht trotzdem, auch wenn das Rechnen die Maschinen übernommen haben?
Rudolf Taschner hat ein flammendes Plädoyer für den Mathematikunterricht vorgelegt. Im SN-Gespräch erläutert der Mathematiker, der mit „math.space“ein breites Publikum anspricht, den Mehrwert von Mathematik für das Leben.
SN: Herr Professor Taschner, ich habe vermutlich Sinus und Cosinus nicht wirklich begriffen. Was fehlt mir?
Eine gute Lehrerin oder ein guter Lehrer, der Ihnen das erklärt hätte. Eine Lehrperson muss drei Eigenschaften haben: Erstens die Persönlichkeit jedes Kindes ernst nehmen – die Kinder spüren das! Zweitens fachlich perfekt sein, sodass das Fach nicht nur im Kopf sitzt, sondern im ganzen Körper. Und drittens sich der Verantwortung gegenüber der Gesellschaft bewusst sein.
Eine solche Lehrperson kann durch umschreibende Geschichten, durch das Erklären, wie etwas zustande kommt, viel erreichen – auch dass Schüler den Sinus und den Cosinus verstehen.
SN: Sie selbst schreiben von siebenstelligen Logarithmen, mit denen Schüler unnötig geplagt wurden. Was ist an Mathe wichtig, was ist Ballast?
Das Wichtige ist, ein Grundverständnis nicht nur in die Köpfe, sondern in die Herzen der Kinder hineinzutragen. Wenn ich etwas auswendig lerne, heißt das im Englischen „to learn by heart“. Das heißt, es geht zu Herzen, es rührt mich als Persönlichkeit an: dass ich mit Zahlen hantieren kann, dass ich etwas schätzen kann, dass ich in der Geometrie erspüre, wie groß das Volumen einer Kugel sein wird, wenn ich ihren Radius verdreifache. Natürlich soll man auch wissen, wie das Rechnen funktioniert, aber dauernd rechnen zu müssen ist nicht notwendig, das macht tatsächlich die Maschine besser.
SN: Sie vergleichen die Plage in der Mathematik mit der „Schule der Geläufigkeit“beim Klavierlernen. Was ist der Gewinn?
Das Einmaleins ist kaum eine Plage. Das vermitteln die Lehrerinnen in der Volksschule sehr gut, wie man die Dreierreihe erlernt, die nicht ganz einfach ist, oder die Siebenerreihe, die die schwierigste ist.
Kein Mensch muss eine 17er-Reihe können. Aber das kleine Einmaleins bringt immer wieder Erkenntnisse. Zum Beispiel die Siebenerreihe: Wenn ich die Einerstelle kenne, dann weiß ich, dass das nur eine bestimmte Zahl aus dieser Reihe sein kann. Wenn die Einerstelle 9 ist, kann es nur 49 sein, wenn sie 1 ist, kann es nur 21 sein. Da komme ich auf etwas drauf, und auf etwas draufkommen ist immer etwas Schönes. Wenn man dann auch noch fragt, warum, dann ist man schon Mathematiker.
SN: Sie warnen vor der Abhängigkeit von Maschinen. Ist Mathematik nicht von riesigen Computern abhängig?
Nein, nein. Der Mathematiker möchte verstehen, warum ein Beweis funktioniert. Da hilft der Computer gar nichts. Der Mathematiker Andrew Wiles (*11. April 1953 in Cambridge, Anm.) hat eine jahrhundertelang unbewiesene Vermutung bewiesen – mit Bleistift und Papier.
Digitale Kompetenz heißt zu wissen, wann nehme ich das Smartphone in die Hand und wann nicht. Den Kindern dieses Gefühl der Freiheit zu geben ist etwas Schönes. Dann sind sie frei im Denken und aufgeklärt im Sinne von Kant.
SN: Wenn ich eine Sprache lerne, erlebe ich den Nutzen. Bei Mathematik kaum, weil der Computer mathematische Probleme besser löst.
Das glaube ich nicht so sehr. Wenn ich überlege, was ein Produkt in der Herstellung kostet und was das ausmachen wird, wenn ich eine bestimmte Stückzahl davon herstellen kann, und wie viel Stück das sind, wenn ich es über fünf Monate mache – das überlege ich doch selbst! Einem Geschäftsführer, der solche Fragen der Maschine überlässt, würde ich kein Geld anvertrauen.
Das lernt man in der Mathematik, dass man einen Überblick hat über das Quantitative, über die Zahlen. Alle, die Geld verdient haben, hatten diesen Überblick. Sie haben sich nicht auf die Maschine verlassen. In der Mathematik geht es um das Verstehen. Rechnen können Maschinen besser als wir.
SN: Was verstehe ich durch die Mathematik besser von unserer Welt?
Zum Beispiel, warum sich der Mond um die Erde bewegt. Nun kann man sagen, das sei nicht so wesentlich. Aber es hat sogar historische Bedeutung. Früher glaubte man, dass Engel mit ihren Flügeln den Mond antreiben – ein schönes Bild. Aber heute haben wir dafür ein mathematisches Bild, indem wir sagen, im Raum gibt es Vektoren, Pfeile, die den Mond gleichsam im Griff haben. Diese Pfeile kann man rechnen und daher weiß ich, warum sich der Mond genau so um die Erde bewegt. Und warum es den Babyloniern gelungen ist, eine Sonnenfinsternis auszurechnen – das hat damals unglaubliche Machtfülle bedeutet.
SN: Sie kritisieren zentrale Tests. Aber nichts ist doch so objektiv wie Mathematik?
Wenn ich zentral prüfe, wird die Schule zu einer Art Fahrschule. Dann lerne ich nur mehr auf die Fahrprüfung hin. Dieses „teaching to the test“ist gefährlich. Da wird vieles weggelassen. Die Kinder lernen relativ uninteressante Beispiele, und es verliert alles seinen Reiz.
Ich soll keine Beispiele lernen, sondern ich soll lernen, über die Beispiele nachzudenken und darüber sprechen zu können. Das kann ich nur in der direkten Kommunikation mit der Lehrerin, dem Lehrer. Da spürt man dann, ob die Schüler das verstanden haben oder nicht. Das kann man schlecht standardisieren.
Ein Rechenfehler, den ich später als solchen erkenne, ist kein schlechtes Zeichen. Schlecht ist nur, wenn ich mich verrechne und ich nicht weiß, dass ich mich verrechnet habe. Ein Test kann aber nicht feststellen, ob ich nur einen dummen Rechenfehler gemacht habe oder ob ein schwerer Gedankenfehler vorliegt. Das ist sehr heikel.
Ich bin sehr für Tests, aber sie sind nicht das Allheilmittel. Mathematik soll die Bildung bereichern, nicht nur das Kompetenzdenken.
„Beim 1x1 komme ich auf vieles drauf.“Rudolf Taschner, Mathematiker