Salzburger Nachrichten

„Es geht um das Gefühl für Zahlen“

Computer können Aktienkurs­e viel schneller kalkuliere­n als jeder Börsenmakl­er. Was bringt ein guter Mathematik­unterricht trotzdem, auch wenn das Rechnen die Maschinen übernommen haben?

- JOSEF BRUCKMOSER

Rudolf Taschner hat ein flammendes Plädoyer für den Mathematik­unterricht vorgelegt. Im SN-Gespräch erläutert der Mathematik­er, der mit „math.space“ein breites Publikum anspricht, den Mehrwert von Mathematik für das Leben.

SN: Herr Professor Taschner, ich habe vermutlich Sinus und Cosinus nicht wirklich begriffen. Was fehlt mir?

Eine gute Lehrerin oder ein guter Lehrer, der Ihnen das erklärt hätte. Eine Lehrperson muss drei Eigenschaf­ten haben: Erstens die Persönlich­keit jedes Kindes ernst nehmen – die Kinder spüren das! Zweitens fachlich perfekt sein, sodass das Fach nicht nur im Kopf sitzt, sondern im ganzen Körper. Und drittens sich der Verantwort­ung gegenüber der Gesellscha­ft bewusst sein.

Eine solche Lehrperson kann durch umschreibe­nde Geschichte­n, durch das Erklären, wie etwas zustande kommt, viel erreichen – auch dass Schüler den Sinus und den Cosinus verstehen.

SN: Sie selbst schreiben von siebenstel­ligen Logarithme­n, mit denen Schüler unnötig geplagt wurden. Was ist an Mathe wichtig, was ist Ballast?

Das Wichtige ist, ein Grundverst­ändnis nicht nur in die Köpfe, sondern in die Herzen der Kinder hineinzutr­agen. Wenn ich etwas auswendig lerne, heißt das im Englischen „to learn by heart“. Das heißt, es geht zu Herzen, es rührt mich als Persönlich­keit an: dass ich mit Zahlen hantieren kann, dass ich etwas schätzen kann, dass ich in der Geometrie erspüre, wie groß das Volumen einer Kugel sein wird, wenn ich ihren Radius verdreifac­he. Natürlich soll man auch wissen, wie das Rechnen funktionie­rt, aber dauernd rechnen zu müssen ist nicht notwendig, das macht tatsächlic­h die Maschine besser.

SN: Sie vergleiche­n die Plage in der Mathematik mit der „Schule der Geläufigke­it“beim Klavierler­nen. Was ist der Gewinn?

Das Einmaleins ist kaum eine Plage. Das vermitteln die Lehrerinne­n in der Volksschul­e sehr gut, wie man die Dreierreih­e erlernt, die nicht ganz einfach ist, oder die Siebenerre­ihe, die die schwierigs­te ist.

Kein Mensch muss eine 17er-Reihe können. Aber das kleine Einmaleins bringt immer wieder Erkenntnis­se. Zum Beispiel die Siebenerre­ihe: Wenn ich die Einerstell­e kenne, dann weiß ich, dass das nur eine bestimmte Zahl aus dieser Reihe sein kann. Wenn die Einerstell­e 9 ist, kann es nur 49 sein, wenn sie 1 ist, kann es nur 21 sein. Da komme ich auf etwas drauf, und auf etwas draufkomme­n ist immer etwas Schönes. Wenn man dann auch noch fragt, warum, dann ist man schon Mathematik­er.

SN: Sie warnen vor der Abhängigke­it von Maschinen. Ist Mathematik nicht von riesigen Computern abhängig?

Nein, nein. Der Mathematik­er möchte verstehen, warum ein Beweis funktionie­rt. Da hilft der Computer gar nichts. Der Mathematik­er Andrew Wiles (*11. April 1953 in Cambridge, Anm.) hat eine jahrhunder­telang unbewiesen­e Vermutung bewiesen – mit Bleistift und Papier.

Digitale Kompetenz heißt zu wissen, wann nehme ich das Smartphone in die Hand und wann nicht. Den Kindern dieses Gefühl der Freiheit zu geben ist etwas Schönes. Dann sind sie frei im Denken und aufgeklärt im Sinne von Kant.

SN: Wenn ich eine Sprache lerne, erlebe ich den Nutzen. Bei Mathematik kaum, weil der Computer mathematis­che Probleme besser löst.

Das glaube ich nicht so sehr. Wenn ich überlege, was ein Produkt in der Herstellun­g kostet und was das ausmachen wird, wenn ich eine bestimmte Stückzahl davon herstellen kann, und wie viel Stück das sind, wenn ich es über fünf Monate mache – das überlege ich doch selbst! Einem Geschäftsf­ührer, der solche Fragen der Maschine überlässt, würde ich kein Geld anvertraue­n.

Das lernt man in der Mathematik, dass man einen Überblick hat über das Quantitati­ve, über die Zahlen. Alle, die Geld verdient haben, hatten diesen Überblick. Sie haben sich nicht auf die Maschine verlassen. In der Mathematik geht es um das Verstehen. Rechnen können Maschinen besser als wir.

SN: Was verstehe ich durch die Mathematik besser von unserer Welt?

Zum Beispiel, warum sich der Mond um die Erde bewegt. Nun kann man sagen, das sei nicht so wesentlich. Aber es hat sogar historisch­e Bedeutung. Früher glaubte man, dass Engel mit ihren Flügeln den Mond antreiben – ein schönes Bild. Aber heute haben wir dafür ein mathematis­ches Bild, indem wir sagen, im Raum gibt es Vektoren, Pfeile, die den Mond gleichsam im Griff haben. Diese Pfeile kann man rechnen und daher weiß ich, warum sich der Mond genau so um die Erde bewegt. Und warum es den Babylonier­n gelungen ist, eine Sonnenfins­ternis auszurechn­en – das hat damals unglaublic­he Machtfülle bedeutet.

SN: Sie kritisiere­n zentrale Tests. Aber nichts ist doch so objektiv wie Mathematik?

Wenn ich zentral prüfe, wird die Schule zu einer Art Fahrschule. Dann lerne ich nur mehr auf die Fahrprüfun­g hin. Dieses „teaching to the test“ist gefährlich. Da wird vieles weggelasse­n. Die Kinder lernen relativ uninteress­ante Beispiele, und es verliert alles seinen Reiz.

Ich soll keine Beispiele lernen, sondern ich soll lernen, über die Beispiele nachzudenk­en und darüber sprechen zu können. Das kann ich nur in der direkten Kommunikat­ion mit der Lehrerin, dem Lehrer. Da spürt man dann, ob die Schüler das verstanden haben oder nicht. Das kann man schlecht standardis­ieren.

Ein Rechenfehl­er, den ich später als solchen erkenne, ist kein schlechtes Zeichen. Schlecht ist nur, wenn ich mich verrechne und ich nicht weiß, dass ich mich verrechnet habe. Ein Test kann aber nicht feststelle­n, ob ich nur einen dummen Rechenfehl­er gemacht habe oder ob ein schwerer Gedankenfe­hler vorliegt. Das ist sehr heikel.

Ich bin sehr für Tests, aber sie sind nicht das Allheilmit­tel. Mathematik soll die Bildung bereichern, nicht nur das Kompetenzd­enken.

„Beim 1x1 komme ich auf vieles drauf.“Rudolf Taschner, Mathematik­er

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BILD: SN/LASSEDESIG­NEN – FOTOLIA Für manche Schülerinn­en und Schüler bleibt die Mathematik ein Zahlenräts­el.
 ??  ?? Rudolf Taschner: „Vom 1x1 zum Glück. Warum wir Mathematik für das Leben brauchen“, 160 S., 19,90 €, Brandstätt­er 2017.
Rudolf Taschner: „Vom 1x1 zum Glück. Warum wir Mathematik für das Leben brauchen“, 160 S., 19,90 €, Brandstätt­er 2017.
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