Ein kriminell gutes Gericht
In seinem Krimi „Scherbengericht“schickt Veit Heinichen einen entlassenen Häftling auf einen subtilen Rachefeldzug in die Küchen seiner Feinde. Ein Lokalaugenschein in Triest.
TRIEST. Veit Heinichen sitzt auf der Terrasse des Grand Hotel Duchi d’Aosta und lässt den Blick über die Piazza dell’Unità d’Italia schweifen. Hier, mitten im Zentrum von Triest, hat er ein paar zentrale Figuren seines jüngsten Krimis „Scherbengericht“entdeckt. Zum Beweis zückt er sein iPhone und blättert in seinen Fotos. „Hier ist die Vorlage für Aristèides Albanese“, sagt er. Zu sehen ist ein Stadtstreicher, der in einem abgetragenen weißen Anzug gar keine so schlechte Figur abgibt. Sein wuchernder Bart und sein verfilztes, verknotetes Haar verleihen ihm eine würdevolle Aura: als ob Georges Moustaki vom Himmel herabgestiegen wäre. Aus diesem Bild entstand der Koch Aristèides.
Er saß 17 Jahre schuldlos im Gefängnis. Triestiner Geschäftsleute, Politiker, Intellektuelle und sogar seine Lebensgefährtin machten ihn zum Bauernopfer. Daher auch der Titel „Scherbengericht“, benannt nach der Methode im antiken Athen, unliebsame Personen per Abstimmung zu verbannen.
Das Wort Scherbengericht erinnert aber auch an ein Essen, das in armseligen Verhältnissen auf den Tisch kommt. Aus dieser Überlegung heraus entstand Heinichens bislang wohl bester Krimi: Er schickt Aristèides auf einen subtilen Rachefeldzug, der sogar den Grafen von Monte Christo alt aussehen lässt. Frisch aus dem Gefängnis entlassen baut Aristèides mit einem pakistanischen Asylbewerber eine Art „Mülltaucher-Lokal“auf. Hier werden Speisen angeboten, die allesamt aus unverkäuflichen Resten des nahen Marktes gekocht wurden. In seiner Freizeit aber steigt er in die Wohnungen seiner Feinde ein. Dort studiert er die vorhandenen Vorräte. Nach dem Motto „Du bist, was du isst“bereitet er dann Gerichte zu. Wissend, dass der erste Heimkehrer des jeweiligen Ehepaars mutmaßen wird, dass der andere einen zärtlichen Gruß in der Küche hinterließ. Als geheime Zutat mengt Aristèides den Gerichten aber stets Rizinusöl bei, den Drahtziehern sogar die giftigen Rizinussamen. „Man muss es so drastisch formulieren“, sagt Heinichen und nippt am Aperol Spritz: „Seine gierigsten Opfer sollten sich zu Tode sch…“
Seiner – sagen wir einmal – sexuell freizügigen Ex-Gefährtin und Mutter seines Sohnes rückt Aristèides besonders hinterlistig zu Leibe. Im fast leeren Kühlschrank findet er Rohschinken, Joghurt, eine fleckige Zitrone und alte Knoblauchzehen. Im Hängeschrank stößt er auf Spaghetti, getrocknete Peperoncini und Oliven. Im Buch heißt es: In dieser Nacht würde Fedora ein Festmahl vorfinden und sich das Hirn zermartern, wer es für sie zubereitet hatte. Und hoffentlich war sie hungrig genug, sich trotzdem darüber herzumachen. Auch wenn der Teller mit Spaghetti und Oliven an krokantem Rohschinken und einer Joghurt-Zitronen-Sauce mit einem Hauch von Knoblauch kalt wäre, wenn sie zurückkam. Das Rizinusöl aber mischt er ausnahmsweise nicht in das Gericht, sondern in das riesige Nutellaglas, das Fedora auf dem Küchentisch platziert hat. Samt Esslöffel, damit der Zugriff ungebremst erfolgen kann, wenn sie wieder einmal die Lust überkommt. Da sie nach ihrer ersten Durchfallattacke die Ursache bei den Spaghetti vermutetet, löffelt sie im Krimi brav ihr Nutella weiter. Mit weitreichenden Folgen. Rache ist eben süß.