Der Literaturnobelpreis bleibt in Europa
Der Nobelpreis für Literatur geht diesmal an den britischen Autor Kazuo Ishiguro.
Er wurde zwar in Japan geboren, wuchs aber in London auf und betrachtet sich als Brite: Kazuo Ishiguro (Bild) ist der Träger des Literaturnobelpreises 2017, das gab das Nobelpreiskomitee in Stockholm am Donnerstag bekannt. Auch wenn seine bisher acht Romane (unter anderem „Was vom Tage übrig blieb“) weltweit Fans haben und zwei davon prominent verfilmt wurden, war die Entscheidung der Akademie – nach Bob Dylan – eine weitere, aber unumstrittene Überraschung. Auch Ishiguro war überrascht.
Der Einzelne hat Ansprüche ans Leben, möchte nach eigenen Vorstellungen ohne Behinderungen von außen leben. Die Gesellschaft aber zerrt an ihm, lässt ihn nicht nach seiner Façon glücklich werden und erhebt den Anspruch, den Menschen zu einem nützlichen Mitglied eines Kollektivs zu gestalten. Dieser Konflikt des Individuums gegen die Gesellschaft bildet den Kern des Werks von Kazuo Ishiguro. Für jene, die nicht im Einklang stehen mit ihrer Umwelt, hat er einen Begriff gefunden, „Die Ungetrösteten“. So heißt ein Roman aus dem Jahr 1995, der bei seinem Erscheinen sogleich als eines der bedeutenden Bücher der neueren britischen Literatur angenommen wurde.
Ein Mann blickt zurück, Erinnerung ist das eigentliche Thema. Er ist ein berühmter Pianist, es mangelt ihm an gar nichts, und dann findet er sich im Hotel in einer Stadt wieder, wo er in ein paar Tagen ein Konzert geben soll. Hier, wo er fremd ist, begegnet er Menschen, die sich ihm anvertrauen – allesamt mit einem Knick in ihrem Herzen, weil ihre individuellen Neigungen und Bedürfnisse an den Erfordernissen des Alltags zuschanden geworden sind. Jetzt stehen sie allein und sehen im Pianisten Ryder einen Hoffnungsträger, der sie wenigs- tens auf Zeit aus der sie umfangenden Misere herauszulösen vermag. Gut möglich, dass er in seiner Position als Künstler den anderen als säkularer Heilsbringer gilt.
Ishiguro kam als Fünfjähriger aus Nagasaki, wo er im Jahr 1952 geboren wurde, nach England. Es ist vorstellbar, dass seine Herkunft bis in den Schreibstil durchgeschlagen hat. Ihm fehlt das Raue, bisweilen Rüpelhafte, das auftrumpfend Kraftmeiernde, das seine europäischen Kollegen für sich gern in Anspruch nehmen. Die Menschen, denen er sich sorgsam zuwendet, mögen verstört sein, ihr Leben ist außer Rand und Band, nichts läuft zusammen und sie stehen vor einem Abgrund, die Haltung des Verfassers aber bleibt zuvorkommend, kein böses Wort entkommt ihm. Er bleibt zurückhaltend und distanziert, die Methode, sich in jemand anderen einzufühlen, um die Leser ins Leiden mit einzubeziehen, bleibt ihm fremd. Der Durchbruch gelang Ishiguro schon im Jahr 1989, als sein Roman „Was vom Tage übrig blieb“erschien. Ein Butler besucht in Cornwall eine frühere Arbeitskollegin, und konfrontiert mit der Gegend tauchen Erinnerungen auf, die nicht ohne Grund längst vergraben schienen. Immerhin taucht das Bild des Lords auf, dem er zeitlebens treu ergeben war, der jedoch einen zweifelhaften Charakter abgab. Seine Verstrickungen in den Nationalsozialismus blieben dem Butler verborgen allein deshalb, weil er sich darum nicht kümmern wollte.
Es gehört zur Eigenart von Ishiguro, sich mit Charakteren zu beschäftigen, deren Leben um ein dunkles Zentrum kreist. Finster ist nicht nur die Gegenwart, mit Blick auf die Zukunft ergeben sich erschreckende Perspektiven, wenn er die Möglichkeiten der Wissenschaft in die Lebenswirklichkeit weiterdenkt. Der Roman „Alles, was sie geben mussten“aus dem Jahr 2005 steht zwar in der Tradition von George Orwell, wenn er von einer Wirklichkeit handelt, in der Menschen unter diktatorischen Verhältnissen gehalten werden. Im Grunde spricht Ishiguro vom Hier und Jetzt. Die Zukunft hat längst begonnen, das ist das eigentlich Fürchterliche. Als Zeitraum wird ja das Ende des 20. Jahrhunderts angegeben. Die Möglichkeiten einer solch repressiven Gesellschaft sind längst vorhanden.
Jugendlichen in einem Internat wird jedes eigene Recht abgesprochen, indem sie als Reservoir für Organentnahmen verfügbar sein sollen. Sie sind Klone, deshalb fallen Fürsprecher wie Eltern von vornherein weg. Sie werden weitgehend in Unwissenheit gehalten, sodass an Aufstand nicht zu denken ist. Drei dieser Ungetrösteten werden genauer ins Auge gefasst durch die selbst betroffene Erzählerin: „Ich heiße Kathy H.“Die Geschichte ereignet sich in einem geschlossenen Raum, wo Übersicht gewahrt bleibt.
Mit seinem jüngsten Roman „Der begrabene Riese“versucht sich Ishiguro auf einem Gebiet, das ihm bisher verschlossen blieb. Er geht weit zurück in die Geschichte, ins Südengland des fünften Jahrhunderts, als die Mythen noch recht hatten. Das Ensemble eines Fantasy-Romans bekommt seinen Auftritt, ohne dass sich Ishiguro an die Regeln halten würde. Wieder gibt es eine Gesellschaft, die Rückhalt gleichermaßen bietet wie Anpassung fordert. Und wieder stoßen wir auf Leute, die sich selbst aus dem Spiel nehmen, weil sie sich den Regeln der Allgemeinheit nicht unterwerfen. Ein altes Ehepaar wird unter dem Sonderlingstatus zu Geduldeten im Dorf. Sie brechen auf, um nach ihrem seit langer Zeit abgängigen Sohn zu suchen, und werden zu Fremdlingen in einem Land, das auf alles Unbekannte allergisch reagiert. Mit Kazuo Ishiguro als Nobelpreisträger war nicht zu rechnen. Mit dieser Wahl leben wir gern.