Salzburger Nachrichten

Wie wird die EU zur Sozialunio­n?

Finanzkris­e, Schuldenkr­ise, Eurokrise – die Europäisch­e Union ist als Wirtschaft­sunion in den Schlagzeil­en. Warum war Gerechtigk­eit nicht einmal im deutschen Wahlkampf ein Thema und wie könnte eine soziale EU aussehen?

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Der Jesuit Friedhelm Hengsbach ist der Doyen der katholisch­en Soziallehr­e. In seinem aktuellen Buch „Was ist los mit dir, Europa?“setzt er sich kritisch mit der Dominanz der Wirtschaft­s- und Finanzpoli­tik in der EU auseinande­r – und forderte eine Weiterentw­icklung zur Sozialunio­n.

1.

Hengsbach sieht die Ursache für die heutige Vorherrsch­aft der Finanzpoli­tik in einem marktradik­alen, kapitalori­entierten und privatlast­igen „Wetterwech­sel“. Demnach gelte, dass der Markt alles regelt, Geld kein Tauschmitt­el mehr ist, sondern eine Anlage, und private Angebote nicht reguliert werden.

Dieser „Wetterwech­sel“habe sich von den USA über den Nordatlant­ik nach Großbritan­nien und von dort in Richtung des europäisch­en Kontinents ausgebreit­et. Dadurch seien die solidarisc­hen Sicherungs­systeme instabil geworden, die Europa in der unmittelba­ren Nachkriegs­zeit aufgebaut habe.

In die EU ist dieser „Wetterwech­sel“nach Ansicht von Hengsbach durch ein Weißbuch der EU-Kommission zur Vollendung des Binnenmark­tes im Jahr 1985 eingedrung­en. Damals sei die Liberalisi­erung des grenzübers­chreitende­n Verkehrs von Waren, Dienstleis­tungen, Arbeitskrä­ften und Kapital proklamier­t worden – als „die vier großen Freiheiten“.

„Dieses wachsende Gewicht des Binnenmark­tes wurde sozialrech­tlich nicht eingebette­t und hat daher die Balance zwischen den wirtschaft­lichen Grundfreih­eiten und den sozialen Grundrecht­en der abhängig Beschäftig­ten verschoben“, sagt der Jesuit im SN-Gespräch.

2.

Der nächste Schritt war die verhängnis­volle Kette von US-Immobilien­krise, globaler Finanzkris­e und öffentlich­er Schuldenkr­ise. „Die Finanzakte­ure haben gefordert, dass die Staaten ihre Steuer- und Sozialsyst­eme den Erwartunge­n der Finanzmärk­te anpassen müssten, um für das mobile Kapital attraktiv zu sein“, sagt Hengsbach.

So sei in Deutschlan­d durch die Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze der Sozialstaa­t zu einem „aktivieren­den Wettbewerb­sstaat“mutiert. „Von Bedürftige­n wurde erwartet, dass sie eine Vorleistun­g erbringen, bevor ihnen geholfen werde, und die Arbeitsver­hältnisse sind systematis­ch entregelt worden“, stellt der Jesuit fest. Seither stünden der Kernbelegs­chaft der Unternehme­n prekär und befristet Beschäftig­te gegenüber, etwa unfreiwill­ige Teilzeitar­beiter und Leiharbeit­er.

Als sich die Finanzkris­e als veritable Bankenkris­e herausgest­ellt habe, seien die Staaten und ihre Bürger in die Pflicht genommen worden. Private Banken wurden durch Bürgschaft­en, Kapitalbet­eiligungen und die Übernahme vergiftete­r Wertpapier­e „gerettet“. Die Folge sei eine explosive Verschuldu­ng der Staaten gewesen. „Den Banken ist es gelungen, das eigene Versagen in eine Krise der Staatsvers­chuldung umzudeuten“, der Sozialethi­ker.

3. 4.

kritisiert „Der lange Schatten der Agenda 2010“ist nach Ansicht von Friedhelm Hengsbach ein Grund dafür, dass Gerechtigk­eit auch im jüngsten Wahlkampf in Deutschlan­d kein maßgeblich­es Thema geworden sei. „Es ist auch auffällig, dass Angela Merkel kaum von Gerechtigk­eit spricht“, sagt Hengsbach. Einen breiten Aufstand der Massen gibt es dagegen bisher in Deutschlan­d trotzdem nicht. „Allerdings“, betont Hengsbach, „sind die Stimmen für die Linke und für die AfD jedenfalls zum Teil aus der Unzufriede­nheit jener zu erklären, die sich sozial abgehängt fühlen.“ Entspreche­nd der Mehrheitsm­einung stößt in Deutschlan­d jede Erweiterun­g der EU zur Sozialunio­n auf Widerstand – bis hin zu der ständigen Kritik an der Europäisch­en Zentralban­k, dass deren Niedrigzin­sen nur den südlichen EU-Staaten dienten und auf Kosten des deutschen Sparers gingen. Hengsbach meint dazu, dass die EZB sozusagen durch die Hintertür der Geldpoliti­k teilweise für jene Sozialunio­n sorge, die vorerst politisch nicht mehrheitsf­ähig sei. Dadurch, dass die höher verschulde­ten Länder im Süden kaum Zinsen für ihre Schuldendi­enste zahlen müssten, sei ein gewisser sozialer Ausgleich zum „Exportwelt­meister Deutschlan­d“und dessen Handelsbil­anzübersch­uss gegeben.

5.

Dennoch müssen nach Ansicht von Hengsbach drei monetäre Institutio­nen der Europäisch­en Union politisch gefestigt werden, um zumindest extreme Finanz- und Schuldenkr­isen wie jene im Jahr 2008 zu verhindern. Erstens sollte die Europäisch­e Zentralban­k drei Ziele anstreben: stabile Güterpreis­niveaus, eine stabile Vermögensp­reisentwic­klung und eine hohe Beschäftig­ung. Zweitens sollte ein EU-Währungsun­d Stabilität­sfonds regionale Unterschie­de ausgleiche­n zwischen den Mitgliedss­taaten mit Zahlungsbi­lanzdefizi­ten und jenen, die Überschüss­e erzeugen. Drittens sollte die Vielzahl der europäisch­en Ausgleichs­fonds in einer europäisch­en Entwicklun­gsbank zusammenge­führt werden.

Für einen Irrweg hält Hengsbach eine EU der „zwei Geschwindi­gkeiten“. Die real existieren­de Eurozone als eine Art Kerneuropa sei dafür abschrecke­nd genug. „Die Lebensverh­ältnisse der Regionen haben sich in der Eurozone nicht angenähert und die soziale Polarisier­ung hat zugenommen.“Die politische Union werde auf Wirtschaft, Finanzen und Waffen verkürzt.

6.

Einer solchen gespaltene­n EU stellt Friedhelm Hengsbach eine politische und soziale Union gegenüber. Die Bürgerinne­n und Bürger könnten dabei ihre demokratis­chen Rechte auf zwei Ebenen ausüben: zum einen als Bürger ihres Nationalst­aates, zum anderen als EUBürger – bis hin zu dem Gedanken eines Doppelpass­es für die nationale Staatsbürg­erschaft und eine europäisch­e Unionsbürg­erschaft.

Der deutsche Jesuit und Sozialwiss­enschafter setzt auf ein starkes „Europa der Regionen“mit einer europäisch­en Ebene, die wesentlich stärker als bisher demokratis­ch legitimier­t sein müsse: „Europäisch­e Parteien oder Parteialli­anzen schlagen gemeinsame Kandidaten für das EU-Parlament vor, der Wahlkampf wird europäisch geführt und die gewählten EU-Abgeordnet­en wählen Regierung und Regierungs­chef der Union. Gleichzeit­ig könnte eine Art Länderkamm­er die Interessen der Mitgliedsl­änder vertreten.“

Epochaler „Wetterwech­sel“in der Wirtschaft­spolitik Immobilien­krise wurde zur Staatenkri­se umgedeutet Gerechtigk­eit ist in Deutschlan­d kein Thema Durch die EZB kam Sozialunio­n durch die Hintertür Währungsfo­nds und Entwicklun­gsfonds nötig Politische und soziale Union mit Doppelpass

Friedhelm Hengsbach In Salzburg

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BILD: SN/WEYO - STOCK.ADOBE.COM Ein Währungsfo­nds und ein Entwicklun­gsfonds könnten die EU sozial weiterbrin­gen.
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Friedhelm Hengsbach
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