Warum Kohr den Katalanen geholfen hätte
Am 6. Oktober 1970 hat Leopold Kohr seine Rede „Das Ende Großbritanniens“gehalten. Sie sagt viel über Katalonien heute.
Kleine, unabhängige Einheiten könnten gesellschaftliche Probleme besser lösen als große, „überentwickelte Nationen“. Mit diesem Credo ist der Salzburger Philosoph Leopold Kohr (1909– 1994) frühzeitig für ein „Europa der Regionen“eingetreten. Die SN zitieren dazu aus Kohrs Rede „Das Ende Großbritanniens“:
1.
Für Bayern zählt Bayern, für Katalanen Katalonien Was ich hier unter dem Titel „Das Ende Großbritanniens“– oder meinetwegen Deutschlands, Frankreichs, Russlands, Italiens oder Spaniens – vorschlage, zerstört nichts von dem, was bewahrenswert ist. Denn was für einen Bayern zählt, sofern er sich aus einer lebenslangen Gehirnwäsche befreien kann, die den sinnlosen Glanz der Größe beschwört, ist Bayern, nicht Deutschland; für einen Burgunder ist es das Burgund, nicht Frankreich; für einen Katalanen Katalonien, nicht Spanien; für einen Toskaner die Toskana, nicht Italien. Nichts davon wird zerstört werden. Im Gegenteil. Sie werden alle wiederauferstehen.
Und so wäre Yorkshire in der Fülle seiner Kleinheit eine sinnvollere und größere Gemeinschaft denn als Teil eines Ganzen, das so groß ist, dass nicht einmal Architektur, Aussprache, Steinhecken, Blutwurst oder das Wetter eine gemeinsame „nationale“Erfahrung vermitteln. Das Gleiche gilt für Wales, Cornwall, Schottland, Dorset, Rutland, Westminster, Whitehall, das Old Vic, Covent Garden und die Queen. Sie gäbe es weiterhin oder wieder. Das Einzige, was fehlen würde, wäre das Monster der Größe, die sie alle erstickt. Und damit würde auch das Problem der übermäßigen Größe wegfallen, das einzige, mit dem der Mensch in seiner Kleinheit nicht fertigwird.
2.
Eroberungskriege, Despotie und Tyrannenherrschaft Aus diesem Grund würde sich der heilige Augustinus, würde er heute hier an meiner Stelle zu Ihnen sprechen, für den „Zerfall“Großbritanniens wie auch aller anderen Großmächte aussprechen und mit John Neville Figgis (der die Argumentation des Augustinus zusammenfasst) zu dem Schluss kommen, dass die Welt besser dran wäre, „wenn sie nicht aus ein paar wenigen Ansammlungen bestehen würde, die sich durch Eroberungskriege schützen und in ihrer Begleitung Despotie und Tyrannenherrschaft mit sich bringen, sondern aus einer Gemeinschaft kleiner Staaten, die in Freundschaft zusammenleben, die Grenzen des jeweils anderen nicht überschreiten und nicht von Eifersüchteleien zerfressen sind“.
3.
Jeder Zuwachs an Größe verschärft soziale Probleme All das steht natürlich reichlich quer zur herrschenden Meinung, die fest und steif behauptet, moderne Probleme ließen sich einzig und allein durch internationale Kooperation im großen Maßstab, durch die Bündelung von Wissen und Ressourcen, viribus unitis, mithilfe der Vereinten Nationen und was nicht sonst noch lösen. Nur so werde man mit Katastrophen fertig, die, wie Arbeitslosigkeit, Kriminalität, studentische Unruhen, Armut, Umweltverschmutzung, Überbevölkerung, Krieg, die Welt allein schon dadurch vereinen werden, dass sie sich über alle Grenzen hinweg ausbreiten.
Dabei übersieht man, dass nichts davon das eigentliche Problem darstellt. Denn es geht nicht um Krieg, sondern um den großen Krieg; nicht um Armut, sondern um massenhafte Armut; nicht um Arbeitslosigkeit, sondern um das Ausmaß an Arbeitslosigkeit. Und da das Ausmaß eines Problems durch die Größe des Gebildes bestimmt ist, das betroffen ist, folgt daraus, dass sich die Probleme sozialen Daseins mit jedem Zuwachs bei der Größe einer Gemeinschaft nicht verringern, sondern verschärfen.
Dabei spielt es keine Rolle, dass größere Gemeinschaften auch über größere Mittel verfügen, um mit Problemen fertigzuwerden. Denn nach gut malthusianischer Art nehmen diese Mittel tendenziell arithmetisch zu, während die Probleme wachsender Gemeinschaftsgröße sich in geometrischem Verhältnis steigern. Infolgedessen überrascht es nicht, dass die Probleme in allen größeren Nationen dieser Welt die Fähigkeit des Menschen, damit Schritt zu halten, schon längst hinter sich gelassen haben.
Die krebsartig wuchernden Prozesse der Gemeinschaftsvergrößerung und der internationalen Einigung haben bislang nur eines erreicht, nämlich die kleinen Probleme, die sich mit begrenzten Mitteln bewältigen ließen, zu beseitigen und stattdessen große Probleme zu schaffen, mit denen selbst die größten Mächte nicht fertigwerden.
4.
Eine Größe, mit der wir fertigwerden können Der Kern meines Vorschlags lautet deshalb, die entgegengesetzte Richtung einzuschlagen. Wenn die zunehmende Größe von Nationen die Schwierigkeiten gesellschaftlichen Daseins überproportional steigert, wird eine Verringerung ihrer Größe – indem man diejenigen zerschlägt, welche die optimalen Proportionen überschritten haben – die Schwierigkeiten zwangsläufig überproportional verringern, und es besteht die Möglichkeit, sie wieder der Fähigkeit des Menschen, mit ihnen fertigzuwerden, anzupassen.
In meinen Augen gibt es keinen anderen Ausweg. Antwort auf Größe ist Kleinheit, nicht immer größere Einheiten, so wie die Antwort auf die Sintflut die Arche Noah und nicht die Titanic war. Seine Zeitgenossen hielten Noah für verrückt. Vielleicht war er das. Aber von ihm stammen wir ab. Die Experten hingegen sind alle ersoffen.
5.
Das zu Kleine wird von selbst größer Das heißt natürlich nicht, dass Probleme nicht auch dadurch verursacht sein können, dass Nationen zu klein oder, was auf das Gleiche hinausläuft, zu jung und unterentwickelt sind. Diese Länder sind aber relativ gesehen von eher nachrangiger Bedeutung. Denn die Natur selbst kümmert sich um diese Sache, indem sie jeden Organismus, der zu klein, zu jung oder unterentwickelt ist, mit einem eingebauten Wachstumsmechanismus versehen hat. Infolgedessen wächst alles, was zu klein ist, nicht nur spontan, bis es groß genug ist, um seine Funktion auf bestmögliche Weise zu erfüllen: Allein die Tatsache, dass etwas zu klein ist, erlaubt ein umso gesünderes Wachstum und ist die Voraussetzung allen Wachstums.
Während das Wachstum beim zu Kleinen, Unreifen, Unterentwickelten eine stärkende, reifende und die Form vollendende Wirkung zeitigt, hat es beim Ausgewachsenen, Reifen die genau gegenteilige Folge. Hier führt anhaltendes Wachstum nicht mehr dazu, dass der Organismus gestärkt wird oder reift, son- dern dass er altert. Statt Energie setzt er Fett an. Statt die Form voll auszubilden, gerät er aus der Form. Statt dass die Probleme geringer werden, verschärfen sie sich.
6.
Wachstum ist kein Selbstzweck Deshalb warnt Colin Clark in seiner Streitschrift über „Growthmanship“, über den Wachstumsfetischismus, vor der übermäßigen Fokussierung unserer Zeit auf das Wirtschaftswachstum. Und aus diesem Grund liegt das eigentliche Problem nicht in Nationen, deren Größe klein geblieben ist, sondern in Nationen, die zu groß geworden sind; nicht in Ländern, die unterentwickelt sind, sondern in solchen, die überentwickelt sind.
Wie im Falle einer Frau, die Atlantic-City-Maße erreicht hat, ist die entscheidende Frage nicht mehr die weiteren Wachstums, sondern wie sich dieses Wachstum eindämmen lässt. Die eigentliche Frage ist eine der Größe, der Gestalt, der Form. Denn Wachstum hat keinen Selbstzweck. Es dient allein dazu, dass eine Sache ihre funktionsbestimmte Form erlangt, ob nun eine Muschel, ein Zahn, ein Baum, der menschliche Körper, eine Gesellschaft oder eine Nation.
Wachstum muss ein Ende finden, wenn es seinen Auftrag erfüllt hat Info: Die brandaktuelle Rede „Das Ende Großbritanniens“wurde jetzt erstmals auf Deutsch durch die LeopoldKohr-Akademie veröffentlicht: WWW.LEOPOLD-KOHR-AKADEMIE.AT
„Alles wird zum Problem in der Masse.“