Katalonien soll unabhängig werden – fragt sich: Wann?
Ministerpräsident Carles Puigdemont verschob seine mit Spannung erwartete Erklärung. Dann zeigt er sich versöhnlich. Er verschob die Erklärung der Unabhängigkeit.
MADRID. Die mit Spannung erwartete Rede des katalanischen Ministerpräsidenten Carles Puigdemont kam mit Verspätung. Angeblich wurde in Barcelona noch hektisch versucht, in letzter Sekunde internationale Vermittler ins Spiel zu bringen, darunter die Schweiz. Madrid hat eine Vermittlung in der Krise erneut ausgeschlossen. Verhandlungen mit Puigdemont seien „nicht denkbar“, sagte ein Regierungssprecher.
Als Puigdemont dann vor das Regionalparlament trat, fand er eingangs versöhnliche Worte. Er wolle keine Drohungen oder Beleidigungen, betonte er. Vielmehr gehe es darum, die Spannungen zu lindern. Er wolle aber dem „Wunsch des Volkes nach Unabhängigkeit“folgen. Er bat darum, die Erklärung der Unabhängigkeit zunächst „auszusetzen“. „Um einige Wochen“solle die Unabhängigkeit Kataloniens verschoben werden, um Zeit für einen Dialog zu gewinnen. Grund für die anfängliche Verschiebung der Rede könnte auch Uneinigkeit im Lager der Separatisten gewesen sein. Die linksextreme Kleinpartei CUP, Koalitionspartner von Puigdemont, drängte auf eine harte Lösung.
International wuchs dagegen der Druck massiv an, auf die einseitige Erklärung der Unabhängigkeit zu verzichten.
Für den österreichischen Autor ist klar: Das europäische Projekt muss nationale Egoismen überwinden. SN: Wie beurteilen Sie den Katalonien-Konflikt? Robert Menasse: Ich bin in Kontakt mit Schriftstellern und Intellektuellen in Katalonien. Sie fordern mich auf, laut und deutlich zu sagen: Wir sind Europäer. Die Katalanen nehmen die europäischen Verträge ernst. Was sich in dieser Entwicklung zeigt, ist nicht das, was manche Kommentatoren bei uns schreiben: Die wollen eine eigene kleine Nation bilden; das ist 19. Jahrhundert; die EU muss klarstellen, dass das nicht geht. Was sich hier in Wahrheit zeigt, ist vielmehr: Der Nationalstaat funktioniert nicht; und deswegen zerbricht er. SN: Was wollen denn die Katalanen in der überwiegenden Mehrzahl? Was die Katalanen wollen, wie auch die Basken, ist in Wirklichkeit ein Autonomiestatut, wie es Südtirol hat. Wenn es Südtirol haben kann, ist es vollkommen ungerechtfertigt und unerklärbar, warum die Katalanen das nicht auch haben können.
Ich glaube, es gibt niemanden, der allen Ernstes behaupten kann, dass sich die Zufriedenheit und der Wohlstand der Südtiroler damit erklären lassen, dass sie Teil der italienischen Nation sind. Der Erfolg der Südtiroler beruht vielmehr darauf, dass sie eine autonome Region in einem Netzwerk europäischer Regionen sind. SN: Kann das ein Modell für andere Regionen sein, in Spanien und sonst wo in Europa? Das hat auch einen Vorbildcharakter. Zunächst einmal in Spanien selbst, wo auch andere Regionen sagen: Zusammen mit dieser Zentralregierung des Nationalstaats Spanien können wir uns nicht wirklich im Sinne unserer Mentalität und unserer Kultur entfalten. Umgekehrt hat uns die EU versprochen, und zwar festgeschrieben im Lissabon-Vertrag, dass es in Zukunft um ein Europa der Regionen gehe, und das wollen wir einlösen. Man könnte folglich zu dem aktuellen Konflikt sagen: Die Nationalisten sitzen in Madrid, und die Europäer sitzen in Katalonien. SN: Auf dem Spiel steht hier also die europäische Idee, wie Sie uns seit Jahren vor Augen führen? Man muss begreifen, dass dies im Grunde das Versprechen des europäischen Einigungsprojekts ist: Früher oder später werden die Nationalstaaten absterben, und zwar in dem Maße, wie sie Souveränitätsrechte an die supranationalen Institutionen abgeben. Und wie wird Europa dann politisch organisiert sein? Die logische Antwort lautet: als Netz von Regionen unter dem Dach einer europäischen Republik – das ist die Idee. SN: Vorerst aber ist noch eine große Kluft zwischen dieser Idee und der Realität. Was ist nach Ihrer Ansicht das Haupthindernis auf dem Weg zur Verwirklichung Ihrer Vision? An dieser Schnittstelle zwischen den Autonomiebestrebungen einzelner europäischer Regionen und der Europäischen Union zeigt sich ein weiteres dramatisches Problem. Es besteht darin, dass die letzte Entscheidungsinstanz und die machtvollste Institution in der EU der Europäische Rat ist. Dieser Rat ist die Wagenburg der Vertreter der Nationalstaaten.
Aus diesem Grund droht jetzt die EU europäischen Regionen mit Autonomiebestrebungen wie Katalonien. Denn die nationalen Staatsund Regierungschefs im Europäischen Rat haben sich offenbar auf diese Devise geeinigt: Ich stimme nicht zu, dass sich bei dir jemand abspaltet; und du stimmst nicht zu, dass sich bei mir jemand abspaltet.
Es gibt aber gar keinen EU-Vertrag, in dem festgeschrieben ist, dass es die Aufgabe der Union sei, die Unversehrtheit nationalen Territoriums und nationaler Grenzen zu schützen. Ein solches Statut gibt es nicht. Dagegen ist im LissabonVertrag festgeschrieben, dass die Europäische Union auf dem Weg ist zu einem Europa der Regionen. Die nationalen Grenzen verschwinden ja sowieso, durch Schengen usw. SN: Die in Madrid aber sagen, dass die spanische Nation unteilbar sei … Wie ist Spanien überhaupt zu einer Nation geworden? Ursprünglich gab es verschiedene Regionen, die historisch zu Kulturräumen mit eigener Mentalität und Sprache gewachsen sind. Andalusien war etwas anderes als Katalonien. Aber es gab durch Handel regen Austausch zwischen diesen Regionen.
Nach dem Beginn des Zeitalters der Nationsbildung hat man mit Blut und Tränen und Schwert Territorium erobert. Man hat sich Katalonien, Andalusien, das Baskenland etc. angeeignet und auf diese Weise eine Nation gebildet. Wie hat man den Bewohnern dieser Gebiete erklärt, dass sie fortan alle Spanier seien? Man hat gesagt: Ihr seid keine Mauren und keine Juden. Tatsächlich hat man anschließend die Mauren und die Juden aus dem Land geworfen. Damit war die spanische Nation existent, die freilich nicht funktioniert, wie man jetzt feststellt. Weil der Nationalstaat schlechthin nicht funktioniert. Wir wissen das seit der Nationsbildung des 19. Jahrhunderts. SN: Wie also kann die EU aus der Krise kommen? Wir erleben das Ende der Geschichte des Nationalstaates. Das zeigen Beispiele wie Katalonien oder Schottland. Wir erleben gleichzeitig, dass die politischen Eliten das nicht begriffen haben. Die EU ist institutionell so organisiert, dass am Ende die Nationalstaaten die letzte Entscheidung haben. Das ist der Konstruktionsfehler der Union. Dieser Widerspruch wirkt in unser aller Leben hinein.
Bei vielen Problemen gibt es heute entweder eine Gemeinschaftslösung oder gar keine Lösung. Verantwortungslose Vertreter von Nationalstaaten, die ein Veto gegen eine Gemeinschaftslösung eingelegt haben, erklären dann aber: Die EU funktioniert nicht; wir brauchen eine nationale Lösung – statt etwa einer gemeinsamen Migrations- und Asylpolitik der EU zuzustimmen.