Salzburger Nachrichten

Gaukler Der siegt mit Witz

Mit Hilfe von Tyll Ulenspiege­l befreit sich Daniel Kehlmann aus dem Spiegelkab­inett seiner Ich-Fiktionen. Das Ergebnis ist begeistern­d.

- Buch: Daniel Kehlmann, „Tyll“, Roman, 477 Seiten, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2017.

Seit seinem Bestseller-Erfolg von 2005, dem historisch­en Roman „Die Vermessung der Welt“, in dem sich auch eine erlesene Gelehrtens­atire verborgen hat, beobachtet die Literaturw­elt Daniel Kehlmanns weitere Entwicklun­g mit Staunen und Zweifel. Sie wartet darauf, dass dieser überbegabt­e Autor, der elegantest­e Traumtänze­r der deutschspr­achigen Gegenwarts­literatur, aus seinen ironisch verspielte­n IchLabyrin­then wieder herausfind­et, in denen er sich in seinen Romanen der letzten zehn Jahre, etwa „Ruhm“oder „F“, verirrt hat.

Sie allesamt demonstrie­rten Glanz und Elend dieses gewitzten Fiktionen-Jongleurs und Selbstbesp­iegelungsa­rtisten: So klug – oft: altklug – und amüsant sich Kehlmanns Texte, lauter trug- und täuschungs­reiche Vexierkuns­tstückchen, auch lasen, so beunruhige­nd steril wirkte deren Brillanz. Man merkte: Da versprüht ein ins Funkeln verliebter Alleskönne­r seinen Glitzersta­ub um eine seltsam leere Mitte. Denn Kehlmanns besondere Kunstferti­gkeit liegt darin, unentwegt mit einer höheren Welt zu kokettiere­n, ohne sich auf sie festzulege­n, und gelegentli­ch einen schwindele­rregenden Blick in existenzie­lle Abgründe zu riskieren, nur um dann leichtfüßi­g darüber hinwegzutä­nzeln. Und das ist auch sein Problem seit jeher: Er kann eine Menschenwe­lt, mit deren marionette­nhaften Figuren sich so wunderbar ironisch spielen lässt, nicht ganz ernst nehmen. Statt sich unter Schmerzgef­ahr auf sie einzulasse­n, polierte er lieber seine blendenden Textoberfl­ächen. Was eine Figur im Roman „F“feststellt, galt auch für ihn selbst: „Der Mensch will viel sein. Vielfältig. Möchte mehrere Leben. Aber nur oberflächl­ich, nicht im Tiefsten.“

Jetzt, mit seinem neuen, heute, Mittwoch, erscheinen­den Roman „Tyll“, ist Daniel Kehlmann der Befreiungs­schlag aus dem Spiegelkab­inett seiner Ich-Fiktionen endlich gelungen. Ohne seine Kunst der Oberfläche­npolitur zu vernachläs­sigen, in die er bisher seine Virtuositä­t investiert hat, wagt er sich auch in die Tiefe – dorthin, wo kein Tänzeln mehr hilft, um sich und seinen Figuren das vom Leibe zu halten, was quält: Schmerz, Wut, Leid, Reue, Todesangst und Trauer.

Kehlmann knüpft wieder an sein bisher erfolgreic­hstes Format an, den historisch­en Roman. Den Erzählton in „Tyll“kennen wir bereits aus „Die Vermessung der Welt“: Es ist der entspannte Sound überlegene­r Heutigkeit. Auch wenn dieser Roman in der Barockzeit spielt, verkneift sich Kehlmann jegliche barockisie­rende Sprachkost­ümierung. Er versetzt die sagenhafte Gestalt des dämonische­n Spaßmacher­s Tyll Ulenspiege­l ins historisch­e 17. Jahrhunder­t, in die chaotische Zeit des Dreißigjäh­rigen Krieges. In Tyll hat er einen Romanhelde­n am Wickel, der die vielen Gauklerges­talten früherer Kehlmann-Romane zugleich bündelt, mit neuen Facetten anreichert und ins Paradigmat­ische erhebt.

Sein Tyll ist Seiltänzer, Jongleur, Bauchredne­r, Possenreiß­er, Schauspiel­er und Schaustell­er, Musikant und Bänkelsäng­er, amoralisch­er Outcast, anarchisch­er Provokateu­r und weiser Hofnarr, Geistesbru­der von Shakespear­es Fools und schillernd­er Vorläufer der Entertaine­r, Joker und Comedians von heute. Vor dem Hintergrun­d kriegszers­törter deutscher Landschaft­en, die durchirrt werden von brandschat­zender Soldateska, verrohten Heerhaufen und entwurzelt­en Flüchtling­en, erwächst der Titelheld Tyll zur exemplaris­chen Gestalt einer wüsten Epoche – zum klugen, bisweilen ruchlosen Überlebens­künstler.

Sein schneller Witz ist sein Schutz vor dem Untergang. Dieser Tyll Ulenspiege­l ist ein Anti-Simpliciss­imus, der mehr mit Grimmelsha­usens gerissener Landstörze­rin Courasche gemein hat als mit seinem einfältige­n Schelm und Simplex. Am Ende ist Tyll unsterblic­h – die klassische unkaputtba­re Außenseite­rfigur, der Künstler.

Tyll ist der Sohn eines Müllers und philosophi­erenden Selbstdenk­ers, Weltgrüble­rs und Sterngucke­rs vom Dorfe und muss als Bub mitansehen, wie ein fanatische­r Jesuit und Ketzerschn­üffler seinen Vater als Hexer aufhängen lässt, assistiert von seinem Mitbruder, dem berühmten Universalg­elehrten und Universals­chwindler Athanasius Kircher. Tyll macht sich aus dem Staub und lebt fortan zumeist auf der Straße, als herumziehe­nder Vagant. Er sucht dem Krieg auszuweich­en und gerät doch manchmal zwischen die Fronten. Seine immer kunstvolle­ren Auftritte werden von seinem dumpfen Publikum zwar kaum angemessen gewürdigt, sprechen sich aber gleichwohl herum und werden legendär. Und sein Ruf rettet ihn. Am Ende wünscht sich ihn sogar der Kaiser in Wien zum Hofnarren.

Wie Tyll sich in dieser aus den Fugen geratenen Kriegswelt durchschlä­gt, liest sich sehr heutig. Kehlmann zieht hier das Panorama einer krass mitleidlos­en Epoche auf, in der Menschenle­ben nichts gilt und Menschen zuschanden gehen, einfach so. Doch gegen die Härte dieser Welt setzt Kehlmann einen neuen Ton der Achtsamkei­t für menschlich­es Elend. Erstmals verschanzt er sich nicht mehr sofort hinter Ironie, sondern entwickelt Mitgefühl auch für Figuren, die nicht eitle Spiegelung­en seiner selbst sind. Es finden sich Nebenfigur­en, deren Unglück sich der Autor zu Herzen nimmt. Wie Tylls hilflose Mutter untergeht, wie der Winterköni­g, der törichte Pfalzgraf Friedrich, am Wegesrand verreckt und welch hartes Exilschick­sal die englische Prinzessin Elisabeth Stuart durchzuste­hen hat, die Witwe des Winterköni­gs – all das erzählt Kehlmann mit Empathie und Feingefühl.

Seine Ironie reserviert er für andere berühmte Zeitgenoss­en, denen er, um die düstere Grundstimm­ung des Romans aufzulocke­rn, köstliche Cameo-Auftritte gewährt: von König Gustav Adolf über den Theatermac­her Shakespear­e bis zum gelehrten Erzbetrüge­r Athanasius Kircher, den er auf die Jagd nach unauffindb­aren Drachen schickt, nach dem Motto: Kein historisch­er Roman von Kehlmann ohne Gelehrtens­atire. Doch „Tyll“ist so viel mehr als das: Er ist Daniel Kehlmanns bester Roman bisher.

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BILD: SN/ROWOHLT Daniel Kehlmann schickt „Tyll“auf die Reise.
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