Eine Bar, die noch jeden Gast verzauberte
Seit mehr als 100 Jahren gilt die „American Bar“im Londoner Luxushotel Savoy als Sehnsuchtsort. Nicht nur wegen ihrer Cocktails.
LONDON. Vielleicht ist es ja die Geschichte. Sehr wahrscheinlich sogar. Sie hüllt einen sofort ein, wenn man durch die in schummriges Licht getauchte Bar schreitet. Der schwere Teppich schluckt die Schritte, ein Pianist am schwarzen Flügel sorgt für Jazz-Klänge. An den Wänden hängen Fotos von prominenten Persönlichkeiten aus mehr als einem Jahrhundert und irgendwie wird man plötzlich Teil davon. Hier hat sich Schriftsteller Ernest Hemingway seine Freunde „interessanter“gesoffen und hier erholte sich die Schauspielerin Marilyn Monroe bei einem Glas Champagner von Presseterminen während ihrer London-Besuche. Der britische Staatsmann Winston Churchill trank stets seinen privaten Whisky, der hinter der Bar weggeschlossen war, stritt der Legende nach aber auch regelmäßig über die Rechnung, einmal etwa über eine halb ausgetrunkene Flasche Portwein.
Die American Bar im Londoner Luxushotel Savoy hat unzählige solcher Geschichten parat. Und verzweifelt doch nicht an der Last der Historie oder wirkt wie ein Museum. Im Gegenteil: Gerade wurde sie beim renommierten Ranking „The World’s 50 Best Bars 2017“, das vom Fachverlag William Reed erstellt wird, zur internationalen Topadresse für das laufende Jahr gekürt. Überhaupt ist London die Welthauptstadt des Cocktails. Vier der zehn Topbars auf diesem Planeten sind in der Metropole an der Themse beherbergt. Im hinteren Teil der im Art-déco-Stil eingerichteten Bar, die 1893 öffnete und 1904 in die heutigen Räumlichkeiten umzog, mixt, schüttelt und rührt Martin Hudak seit fast drei Jahren Cocktails. Hinter ihm stehen zwischen etlichen aufgereihten Flaschen und vor der verspiegelten Wand in Szene gesetzt die gewonnenen Trophäen. Der Barkeeper platzt fast vor Stolz über die nun erlangte höchste Ehre in der Branche. „Für gewöhnlich meinen die Leute, die American Bar sei in der Geschichte verloren, altmodisch und es gebe nur klassische Drinks“, sagt er, gekleidet in weißem Jackett mit schwarzem Kragen sowie schwarzer Krawatte. Dabei gehe es dem Team um Zukunft und Fortschritt. „Wie schon vor mehr als 100 Jahren wollen wir auch heute neue und moderne Cocktails kreieren.“Das „Savoy Cocktail Book“aus den 1930er-Jahren von Harry Craddock ist bis heute die Bibel für Barkeeper.
Tatsächlich versucht die lange Karte der American Bar Tradition mit Innovation zu verbinden. Es ist eine Reise über die Insel, von Kent im Süden Englands über London, wo an die Art-déco-Ära erinnert wird, weiter in den Norden in den Sherwood Forest, die Pennines sowie die Grafschaften Yorkshire und Lancashire, wo die industrielle Revolution ihren Anfang nahm, bis ins schottische Edinburgh. Jede Region hat ihren eigenen Charakter, ihre eigene Geschichte und ihre eigenen Aromen, Geschmäcker, Spirituosen, Kräuter und Liköre, die in den Getränken widergespiegelt werden. Zu jedem Mix können Hudak und die anderen Barkeeper eine Geschichte erzählen. Dabei, so der 27-Jährige, sei jeder in der Lokalität willkommen – „Es ist egal, ob man ein Superstar ist oder monatelang Geld gespart hat für ein Geburtstagsfest.“
Die Bar wird schon nach wenigen Momenten zu einem Zuhause, alles fühlt sich an wie eine warme Umarmung, aus der man sich kaum lösen will und die Geborgenheit stiftet. Auf einem der Barhocker sitzt an diesem Abend die US-Amerikanerin Savannah, die viele Jahre in London gewohnt hat und nun wieder in San Francisco lebt. Sie zeigt Barkeeper Hudak auf ihrem Smartphone Bilder ihres Vaters, der erst zwei Wochen zuvor gestorben ist und der als Stammgast bekannt war. Der Tochter bleiben die Erinnerungen an seine Besuche in der Metropole, wo er 15 Jahre lang im Savoy-Hotel übernachtete. An die Gespräche und Begegnungen in dieser seiner Lieblingsbar. Bei einem Glas Weißwein erzählt sie von den Abenden. Hudak hört zu.
„Die American Bar ist wie ein Dorf in einer großen Stadt. Es ist ein Mix aus Menschen, die wie eine Familie sind. Sie besteht aus CocktailBegeisterten, Touristen und Briten“, sagt Savannah über die Besonderheit des Ortes. Ein Italiener steigt in das Gespräch ein. Er arbeitet in einer anderen Londoner Bar als Barkeeper und führt an diesem Abend seine Freundin in die American Bar aus. „Als ich vor der Tür stand, hat plötzlich mein Herz begonnen, schneller zu schlagen“, sagt er voller Ehrfurcht. „Dies hier“, er zeigt hinter die Theke, „ist der Traum von Tausenden Barkeepern auf der ganzen Welt.“
„Wir wollen auch heute noch neue und moderne Cocktails kreieren.“