Die Latte für den Wahlsieger liegt ganz schön hoch LEITARTIKEL
Warum die ÖVP gewann, warum die SPÖ verlor, warum die Grünen implodierten – und was die neue Regierung tun muss.
Kaum ein Wahltag der vergangenen Jahrzehnte, der nicht mit dem Satz kommentiert wurde: Es ist kein Stein auf dem anderen geblieben. So auch diesmal: ÖVP auf Platz eins, SPÖ abgeschlagen, Rekordzuwachs für die Freiheitlichen, Grüne in großen Existenznöten. Da ist ganz schön viel passiert.
Und dennoch ist jeder Stein auf dem anderen geblieben. Zwar hyperventilierte ein ganzes Land, allen voran die hauptamtliche Kurz-Verhinderungspublizistik in Print und online, seit Wochen dem Wahltag entgegen, als drohe unmittelbar der Weltuntergang. Doch das scheint rückblickend betrachtet ein wenig übertrieben gewesen zu sein. Dass die Nummer zwei zur Nummer eins wird und fortan mit großer Wahrscheinlichkeit eine andersfarbige Regierung amtieren wird als bisher: Das ist ein ganz normaler demokratischer Vorgang. Kein Grund zur Aufregung, und einer tieferen Betrachtung wert ist allenfalls der Umstand, dass ganz normale demokratische Vorgänge, die andere Völker mit einem Achselzucken hinnehmen, in Österreich stets einen Orkan im Schrebergarten auslösen.
Überraschend an dieser Wahl ist vor allem, dass sie mit keiner Überraschung verbunden war. Sie ist ungefähr so ausgegangen, wie es die Zunft der Meinungsforscher vorausgesagt hat, und das Ergebnis hat eine innere Logik. Die SPÖ wurde auf Platz zwei verwiesen, weil sie zerstritten ist und in der wichtigen Migrationsfrage niemals auch nur den Hauch der Themenführerschaft gewinnen konnte. Die Grünen implodierten, weil sie keinen Fehler ausgelassen haben, vom Hinauswurf der Parteijugend bis zur Verbannung Peter Pilz’. Die Neos wurden für gute parlamentarische Arbeit belohnt. Die FPÖ profitierte von ihrer Taktik, das Rabaukentum abzulegen. Und Sebastian Kurz gewann, weil er trotz siebenjähriger Zugehörigkeit zur Regierung den Eindruck vermitteln konnte, dass er alles besser machen wird. Besser vor allem als die bisherige Regierung, deren Partner ihren Daseinszweck darin gesehen haben, dem jeweils anderen keinen Erfolg zu gönnen.
Was soll man von der kommenden Regierung, die wohl eine schwarz-blaue sein wird, erwarten? Vor allem: mehr Verantwortung. Die FPÖ, die in der letzten Nationalratssitzung in Komplizenschaft mit SPÖ und Grünen Wahlzu- ckerl im Ausmaß einer halben Milliarde Euro beschloss, gibt in dieser Hinsicht großen Anlass zur Sorge: So, wie es die FPÖ in dieser Nationalratssitzung zeigte, kann man ein Land nicht regieren, auch wenn die SPÖ wohl bis zum heutigen Tag dieser Ansicht ist. Verantwortung ist auch einzumahnen in der Migrationspolitik. Ein Kontrollverlust wie 2015/16 darf sich nicht wiederholen, die bereits anwesenden Migranten aber müssen mit allen Mitteln, inklusive sanften Drucks, integriert werden. Das Pflegeproblem harrt einer über die Legislaturperiode hinausreichenden Lösung, ebenso die Pensionen. Und die Bildung ist eine riesige Baustelle.
Es ist bemerkenswert, dass man im traditionsbehafteten Österreich eine Wahl gewinnen kann, indem man auf Plakaten lautstark „Veränderung“verspricht. Die Latte für den jungen Wahlsieger liegt hoch, sehr hoch. In einem Triumph wie diesem liegt bereits der Keim der nächsten Niederlage. Sebastian Kurz wird an den Erwartungen gemessen werden, die er geweckt hat. Die sind riesig.