Der Paradigmenwechsel in den Denkfabriken
Der Internationale Währungsfonds und die OECD waren Jahrzehnte lang die Supertanker des Neoliberalismus, und nun?
Liberalisierung und Deregulierung, Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, Privat vor Staat – das war ihr Credo. Doch seit einiger Zeit hört man andere Töne. Zuerst von der OECD, der Organisation für Zusammenarbeit und Entwicklung, nun hat auch der Internationale Währungsfonds IWF nachgezogen. Nicht mehr neoliberale Effizienzpostulate, nach denen der Markt alles regelt, werden hochgehalten. Es geht nicht mehr um Angebotsreformen und Produktivitätssteigerungen. Man hinterfragt mehr und mehr Verteilungsfragen, Steuerhinterziehung sowie Finanzierung von Bildung und Gesundheit. Beide Organisationen warnen nun vor den zunehmenden Folgen der Ungleichheit.
So hat die OECD, wirtschaftspolitische Denkfabrik der Industriestaaten, errechnet, dass die gestiegene Ungleichheit im Zeitraum 1990 bis 2010 das Wachstum der Mitgliedsländer im Durchschnitt um fünf Prozent reduziert hat und damit insgesamt zu weniger Wohlstand führte. Im Frühjahr hat der IWF mit seinen fünf Empfehlungen an die Wirtschaftspolitik aufhorchen lassen, in denen er die Politiker aufforderte, durch entsprechende Steuerund Ausgabenpolitik alle Bevölkerungsgruppen am Wachstum profitieren zu lassen. Was ist passiert, wenn Institutionen wie der IWF und die OECD solche Empfehlungen abgeben?
Der IWF liefert die Zahlen, nachzulesen im Fiscal Monitor von Oktober 2017. Nicht nur, dass in den vergangenen 30 Jahren in den Industriestaaten die jährliche Steigerung des Einkommens des obersten Prozents der Spitzenverdiener drei Mal höher war als der restlichen Einkommensbezieher. Er verweist auch darauf, dass der Spitzensteuersatz im Durchschnitt der OECD-Länder zwischen 1981 und 2015 von 62 auf 35 und die Kapitalertragssteuer von 35 auf 25 Prozent gefallen ist. Oder dass in der EU die untersten Einkommen in der jüngsten Krise mit minus 17 Prozent die höchsten Einbußen hatten. Und dass in den Industriestaaten das Steuersystem in den vergangenen 20 Jahren die zunehmende Ungleichheit in der Verteilung der Bruttoeinkommen nicht mehr ausgleichen konnte. Schließlich räumt der IWF noch mit einem Credo des Neoliberalismus auf, dass ei- ne progressive Besteuerung generell negative Effekte auf das Wirtschaftswachstum habe. Erste Schlussfolgerung: Solange progressive Besteuerung nicht das Wachstum schädigt, sollte die Politik den vorhandenen Spielraum nutzen. Zweitens: Die Einnahmen sind in Bereiche wie das Bildungs- und Gesundheitssystem zu stecken. Das stärkt langfristig das Wachstum, kommt allen zugute und verringert über bessere Berufschancen und weniger Krankheit die Ungleichheit. Dass zu große Ungleichheit auch in Industriestaaten zum Problem für das Wirtschaftswachstum und den sozialen Frieden werden kann, haben die einstigen Tanker des Neoliberalismus erkannt. Was Österreich betrifft, sind wir ein Land, das im Vergleich zu den liberalen Schlachtrössern Vereinigtes Königreich und USA die Ungleichheit der Markteinkommen bisher relativ gut korrigieren konnte. Ob das so bleibt? – Wir werden sehen.
Marianne Kager war fast 20 Jahre Chefökonomin der Bank Austria. Heute ist sie selbstständige Beraterin.
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