Graffiti auf Bayerisch
In einem Winkel Oberbayerns sind die Häuser sehr bunt bemalt. Die Motive sind religiöser und volkstümlicher Natur – aber nicht immer.
Oh Schreck, ein Bergsteigerdrama! Ein erfahrener, alter Kletterer will einem jungen Wilden, der an einer Felswand abzurutschen droht, zu Hilfe kommen. Ein Bein hängt bereits über dem Abgrund. Doch keine Sorge, es handelt sich nur um eine Fassadenmalerei – aber was für eine. Vor glutroter Kulisse hat der Künstler diesen Moment auf der Hauswand eines Hotels in Garmisch festgehalten. Und das überhängende Bein ist tatsächlich dreidimensional.
Diese Lüftlmalerei wird oft milde belächelt – was ziemlich borniert ist. Bernhard Riegers effektvolles, 60 Quadratmeter großes Fresko etwa unterscheidet sich in doppelter Hinsicht von herkömmlichen Lüftlmalereien. Der Künstler aus Krün konnte seine „Fassadenkunst“, um den Begriff Lüftlmalerei zu vermeiden, nach einer eigenen Idee realisieren. Normalerweise werden solche Arbeiten nach Wünschen der Hausbesitzer angefertigt. „Ich möchte Altes wiederaufleben lassen.“Riegers Werk ist nicht nur ein echter Hingucker, es zeigt auch, dass die tot geglaubte Malerei an oberbayerischen Hauswänden weiterhin gepflegt wird. Auch wenn sich Rieger nicht als Traditionsmaler versteht.
Bei Spaziergängen durch berühmte Lüftlmaler-Orte wie Mittenwald und Oberammergau gibt es jede Menge üppig bemalter Hausfassaden zu bestaunen – historische und neuere. Goethes Spruch, Mittenwald sei ein „lebendiges Bilderbuch“, trifft noch heute zu. Hier flüchtet die Heilige Familie nach Ägypten, dort kämpft Georg mit dem Drachen. Um die Ecke löscht Florian einen Brand und ein paar Schritte weiter schickt sich Judith an, Holofernes zu enthaupten. Marktszenen, Bauernidyllen vor majestätischer Bergwelt – und sogar Goethe hat sich auf einer Hauswand niedergelassen.
„Für eine Lüftlmalerei braucht es eine Szene mit Personen“, sagt Regine Ronge. Und eine Geschichte. „Die Kenntnis der Urheber und der Bedeutung der alten Malereien schwindet“, erklärt die Mittenwalderin. Sie organisiert Führungen, die in die Bildwelten einführen. „In Mittenwald sind noch 22 historische Lüftlmalereien erhalten, gut 100 neue sind hinzugekommen. Die alten Fresken, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden sind, zeigen ausschließlich religiöse Motive. Dann kam die Lüftlmalerei aus der Mode, viele Kunstwerke gingen verloren, durch Abriss und Übermalung.“
Das ist sehr bedauerlich, wie am Gasthaus Alpenrose zu sehen ist. In kunstvollen Trompe-l’oeil-Medaillons werden Tugenden wie Nächstenliebe und Stärke sowie die fünf Sinne in barocken Szenen symbolisiert, im Giebelfeld darüber wird Maria gekrönt. Einige dieser historischen Malereien müssen dringend restauriert werden. Doch sie befinden sich in Privatbesitz. Und nicht jeder schätzt seinen Fassadenschmuck so sehr, dass er investieren möchte. Im nahen Oberammergau sollte in den 80er-Jahren das Pilatus-Haus abgerissen werden. „Eine Bürgerinitiative konnte das verhindern“, erinnert sich Helga Stuckenberger. Sein ehemaliger Besitzer hatte es 1784 von Franz Seraph Zwinck bemalen lassen, dem bekanntesten Lüftlmaler. Zentral ist die in illusionistische Palastarchitektur eingebundene Szene, die Jesus vor Pilatus zeigt. „Der Auftraggeber hat den Pilatus bei unserer Passion gespielt“, erzählt die Oberammergauerin.
Heute ist das frei stehende Gebäude Höhepunkt der Lüftl-Führungen und beherbergt das Kunsthandwerkszentrum des Orts. Die Passionsspiele selbst sind auch Thema einer Lüftlmalerei. „Sie sehen hier den Schwur der Bürger, nach überstandener Pest alle zehn Jahre die Passion aufzuführen“, erklärt Stuckenberger, die auch schon als Darstellerin mitgewirkt hat. Die Malerei ist 1934, 300 Jahre nach der ersten Ausrichtung des Spiels entstanden. „Diese neueren Malereien werden bis heute ,al secco‘ ausgeführt, auf getrocknetem Putz im Gegensatz zur früheren Fresco-Malerei.“Das sei einfacher, aber weniger lange haltbar und nicht so ausdrucksstark.
Von der Lüftlmalerei allein konnte man auch zu Zeiten, als der Trend von Italien über die Alpen gekommen war, nicht leben. Die Künstler nahmen Aufträge für Arbeiten in Kirchen an oder fertigten wie Zwinck Papierkrippen. Die wenigen heutigen Maler sind vor allem als Restaurateure gefragt. Komplette Fassadengestaltungen sind selten geworden. „Seinen Reichtum stellt man längst auf andere Weise zur Schau“, sagt Regine Ronge, „meist weniger kunstvoll.“Christina Dichtl gehört zu den wenigen, die neben Restaurierungen auch eigene Lüftlmalereien ausführen. In Oberammergau hat sie eine Interpretation der „Bremer Stadtmusikanten“auf die Fassade eines Kinderheims gemalt. Das Motiv hatten die Bewohner ausgewählt. Es befindet sich in guter Gesellschaft, an den Nachbarhäusern kann man sich nämlich auch in die Abenteuer von „Hänsel und Gretel“und „Rotkäppchen“vertiefen.
Dichtl findet es schade, dass nicht auch etwas Modernes gewagt wird. „Ich hätte ein paar Ideen im Kopf.“Bis auf Weiteres scheint Bernhard Riegers Garmischer Bergsteigerdrama die Ausnahme zu bleiben.