Prozess gegen Peter Steudtner beginnt in Istanbul
Der Deutsche wollte türkische Menschenrechtler im Umgang mit Stresssituationen schulen. Dann wurde er festgenommen.
Die Beweislage ist dürftig im Prozess gegen den deutschen Menschenrechtsaktivisten Peter Steudtner, der an diesem Mittwoch in Istanbul beginnt. Aber die türkische Justiz ist unberechenbar, und Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat sein Urteil über Steudtner bereits gesprochen: Er sei ein „Agent“. Juristen meinen deshalb, alles sei drin – von einer Aufhebung der Untersuchungshaft zu Prozessbeginn bis hin zu einer langjährigen Freiheitsstrafe.
Bei einem Workshop der Menschenrechtsorganisation Amnesty International auf einer Insel bei Istanbul wurden Steudtner und andere Teilnehmer Anfang Juli von der Polizei festgenommen. Die Beamten suchten offenbar gezielt nach dem Deutschen. Das erhärtet die These von Bundesaußenminister Sigmar Gabriel, Staatschef Erdoğan nehme Bundesbürger als „Geiseln“, um sie später auszutauschen, etwa gegen türkische Oppositionelle, die in Deutschland Asyl suchen.
Steudtner und den zehn weiteren Angeklagten – darunter ein schwedischer Menschenrechtler, die Türkei-Direktorin von Amnesty International, İdil Eser, sowie der Amnesty-Präsident in der Türkei, Taner Kılıç – wird Unterstützung von Terrororganisationen vorgeworfen. Darauf stehen bis zu zehn Jahre Haft. Die nur 17 Seiten lange Anklageschrift stützt sich auf Indizien, die so schwach sind, dass die Verteidiger gleich zu Beginn des Prozesses die Einstellung des Verfahrens und die Freilassung ihrer Mandanten beantragen wollen.
Aber wie unabhängig können die Richter der 35. Strafkammer überhaupt entscheiden, nachdem Präsident Erdoğan die Angeklagten beschuldigt, sie hätten einen neuen „Putschversuch“gegen ihn vorbereitet?
Erdoğans Wort hat Gewicht in der Türkei. Das könnte auch dem deutschen „Welt“-Korrespondenten Deniz Yücel zum Verhängnis werden, der bereits seit Februar in Untersuchungshaft sitzt, ohne dass es bisher auch nur eine Anklage gegen ihn gibt. Für Erdoğan ist Yücel ein „Terrorist“. Solange er im Amt sei, werde der Deutsche niemals freikommen, droht der Präsident.
Unterdessen setzt Erdoğan seine „Säuberungen“unbeirrt fort. Jetzt greift er in seiner Gerechtigkeitsund Entwicklungspartei (AKP) durch. Jüngstes Opfer ist Melih Gökçek, der Bürgermeister der Hauptstadt Ankara. Der dienstälteste türkische Stadtvater räumt nach 23 Jahren am nächsten Wochenende seinen Schreibtisch – auf Druck Erdoğans. Der Staats- und Parteichef diagnostizierte bereits im Frühjahr „Materialermüdung“in der AKP. Beim Verfassungsreferendum im April hatten 17 der 30 größten Städte mehrheitlich mit Nein gestimmt, darunter Istanbul, Ankara, Izmir, Adana und Antalya.
Erdoğan will deshalb seine Partei wieder auf Vordermann bringen, rechtzeitig vor dem Superwahljahr 2019. Dann stehen im Frühjahr Kommunalwahlen an, gefolgt im Herbst von Parlaments- und Präsidentschaftswahlen. Ausrutscher in Großstädten wie Istanbul und Ankara kann sich Erdoğan dann nicht mehr leisten, wenn er im Amt bestätigt werden will. Nachdem der Istanbuler Bürgermeister Kadir Topbaş bereits zurücktrat, muss nun auch der Hauptstadtbürgermeister Gökçek seinen Hut nehmen.SN,