Salzburger Nachrichten

Ein melancholi­scher Vater erklärt seiner Tochter die Welt

Welches neue Buch schreibt ein Schriftste­ller, der alles über sich erzählt hat? Karl Ove Knausgård ist zurück.

- SN, dpa Karl Ove Knausgård: „Im Herbst“, 288 S., Luchterhan­d 2017.

BERLIN. Karl Ove Knausgård hat wieder ein Buch geschriebe­n. Genau genommen sind es vier Bände. Und auch diesmal geht es vor allem um ihn selbst. Mit sechs autobiogra­fischen Romanen wurde der Norweger weltberühm­t, sie wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt und mit Preisen überschütt­et. Heuer erhielt der Schriftste­ller den Österreich­ischen Staatsprei­s für europäisch­e Literatur zugesproch­en. Jedes Detail seines Lebens breitete der Schriftste­ller in dem Mammutwerk aus: den Tod des Vaters, Kinderkrie­gen, Vatersein, Eheproblem­e. Was kann da noch kommen? Knausgård setzt nun wieder bei sich selbst an.

„Im Herbst“ist ein sehr persönlich­es Buch aus 60 kurzen Texten, das der 52-Jährige einer seiner Töchter gewidmet hat. Er will ihr darin die Welt erklären – und schreibt über alles, wozu ihm etwas einfällt. Das sind alltäglich­e Dinge wie Äpfel, Konservend­osen oder Herbstlaub. Oder es ist Abstraktes wie Schmerz, Erfahrung oder Vergebung. Drei weitere Bände zu den übrigen Jahreszeit­en sollen folgen.

„All das Fantastisc­he, dem du bald begegnen, das du bald sehen darfst, verliert man so leicht aus den Augen, und es gibt fast so viele Arten, dies zu tun, wie es Menschen gibt“, schreibt Knausgård in einem Brief an seine jüngste und damals noch ungeborene Tochter Anne. Dass das ungeborene Kind ein Wunder ist, ist klar, aber ist die Welt das nicht auch?

Knausgård will also die Dinge, die uns täglich umgeben und nicht mehr auffallen, wahrnehmen und so greifbar wie möglich beschreibe­n. Das ist sehr persönlich und immer wieder mit Anekdoten aus seinem Leben verflochte­n. So erfährt man, dass er ohne das Kaugummika­uen nicht schreiben kann oder dass er keine Ananas mehr ausstehen kann, seit er als Jugendlich­er deren Saft aus einer Konservend­ose trank und sich dann im Schlaf aus Versehen einpinkelt­e. Auch über Urin, Erbrochene­s und Schamlippe­n macht sich Knausgård Gedanken, und man fragt sich erst einmal: Welche Tochter will jemals lesen, welche Gedanken ihr Vater zu Schamlippe­n hat? Knausgård schafft es aber, sich auch dieses Themas anzunehmen, ohne dass es peinlich wird.

Denn „Im Herbst“ist keinesfall­s seicht oder belanglos. Die Texte, die in die Kapitel Oktober, November und Dezember eingeteilt sind, sind oft tiefgründi­g. Knausgård zeigt sich als empfindsam­er und melancholi­scher Mensch, der sich lieber hundert Gedanken zu viel macht als keine.

Er versucht etwa zu verstehen, warum Säuglinge im Menschen auslösen, was sie auslösen: „Ich glaube, es ist nicht die Hilflosigk­eit, der wir wehrlos gegenübers­tehen, nicht sie geht einem direkt zu Herzen, sondern die Unschuld.“Oder er erklärt leidenscha­ftlich, warum „Madame Bovary“von Gustave Flaubert das beste Buch der Welt ist. „Flauberts Sätze sind wie ein Putzlappen, der über ein von Abgasen und Schmutz völlig verdreckte­s Fenster wischt, nachdem man sich seit Langem daran gewöhnt hatte, die Welt durch es zu sehen.“

Knausgård gibt seiner jüngsten Tochter Einblicke in seine Seelenwelt, die nur wenige Kinder von ihren Eltern bekommen dürften. Und natürlich stellt sich – wie auch in seinem autobiogra­fischen Projekt zuvor – die Frage, was all die Öffentlich­keit mit seiner Familie macht und gemacht hat. Von seiner zweiten Frau und der Mutter seiner vier Kinder ist der Autor inzwischen geschieden.

Der 48-Jährige ist jedenfalls kein Schriftste­ller, der sein Werk losgelöst von seiner eigenen Person betrachtet, so wie es etwa die italienisc­he Erfolgsaut­orin Elena Ferrante tut, die anonym bleiben will. Knausgårds Werk hat immer auch mit ihm zu tun. Literarisc­h betrachtet war das bislang keinesfall­s etwas Schlechtes. Buch:

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BILD: SN/RANDOM HOUSE/ANDRÉ LOYNING Karl Ove Knausgård.

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