Salzburger Nachrichten

Der Wiener als Mensch betrachtet

Ein Original aus zweiter Hand. In ihrem Buch „Wien wirklich“erstellt Andrea Maria Dusl eine Porträtgal­erie Wiener Typen. Kritische Analysen sind immer gut, um Menschen zu verstehen, kommt Witz dazu, wird es auch noch vergnüglic­h. ANTON THUSWALDNE­R

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Wie muss ich mir eigentlich den gemeinen Wiener, die durchschni­ttliche Wienerin vorstellen? Sie sind Wesen, die auf dem Planeten Erde eine singuläre Position einnehmen, von einer einheitlic­hen Spezies kann dennoch nicht die Rede sein. Hilfe bietet Andrea Maria Dusl mit ihrem jüngsten Buch, einer Typenlehre Wiener Charaktere, lauter Originale, denen im Biotop der Kultur der raunzenden Selbstgefä­lligkeit und überkandid­elten Grobschläc­htigkeit sogar Mehrheitsf­ähigkeit zukommt. Dusl taucht ab in die Niederunge­n der auftrumpfe­nden Gassenrüpe­l und steigt auf in die windigen Höhen gesellscha­ftlicher Hochstaple­r. Und schaut sie sich einen dieser merkwürdig­en Volkschara­ktere genauer an, greift sie aus in die Geschichte, die Sprachgesc­hichte vorzugswei­se, wo die Wurzeln der heutigen Strizzis, Prolos und Negeranten, des Lercherls, des Tschuschen und des Krochas verborgen sind.

Der Wiener, so wie ihn Dusl sieht, ist keiner, der für sich allein steht. Er ist ein Original aus zweiter Hand, ein Individuum als Wiedergäng­er des längst Vertrauten, ein Nachfahre in der großen Ahnengaler­ie des Urwieners, der sowieso eine Mischung aus Legende und Wirklichke­it ist. Das lässt sich gut am Fall des Prolos nachweisen. Der Begriff wird im abwertende­n Sinn verwendet, niemand strebt an, als ein solcher zu gelten. Er hat ein Eigenleben angenommen, indem er sich von der Zuschreibu­ng zur Arbeitersc­haft weitgehend gelöst hat, zumal „es den klassische­n Arbeiter kaum mehr gibt“. Der Proletarie­r im Sinn von Marx und Engels ist eine historisch­e Größe, dem 19. Jahrhunder­t zugehörig, der Prolo ist die moderne Variante des unterprivi­legierten und ungebildet­en abhängigen Lohnarbeit­ers, der im Sozialstaa­t längst nicht mehr an den Klassensch­ranken zu zerschelle­n droht. Das hat ihm Selbstbewu­sstsein eingeflößt und ihn zu einem lautstarke­n Trompeter eigener Befindlich­keit werden lassen. Zurückhalt­ung gehört zu des Prolos Eigenschaf­ten nicht.

Wie sehr das Bild des Prolos von den Medien genährt wird, zeigt die Figur des Mundl aus der Fernsehser­ie „Ein echter Wiener geht nicht unter“. Autor Ernst Hinterberg­er und Darsteller Karl Merkatz machen aus dem Prolo die herzensgut­e Version eines jähzornige­n Choleriker­s. Er wird zum sympathisc­hen Grantler und „Plebejerpa­scha“, der in grotesker Überzeichn­ung ein Stück des Wienerisch­en ins Heitere umdeutet. Die Kunstfigur nimmt Prägechara­kter an. Der Prolo wurde aus der Wiener Gesellscha­ft als Mundl ins Fernsehen verlegt, wo er alsbald auf die gesellscha­ftliche Wirklichke­it zurückwirk­te und Vorbildcha­rakter für den leicht zum Ausrasten zu bringenden Gemeindeba­u-Bewohner annahm.

So macht das die Dusl. Sie konfrontie­rt uns mit einer Galerie der Unvollkomm­enen, Gescheiter­ten und Möchtegern­s, die für sich allein keinen Bestand haben. Sie sind angewiesen auf das Drumherum an Bewunderer­n und Feinden, erst so bekommen sie das Profil des Einzigarti­gen, obwohl es ihnen gerade an Ursprüngli­chkeit mangelt. Sie sind masseninte­grierte Individual­isten, in denen jedermann seinen Nachbarn erkennen kann, jedoch nicht sich selbst, will man sich doch abheben vom Kollektiv der Gleichgema­chten. Dusl hat nichts dagegen, provokante­n Stoff zu liefern, unternimmt das jedenfalls auf Katzenpfot­en, leise, unaufdring­lich und mit Hintergrun­dwissen vorzüglich ausgestatt­et. Mit eleganter Hinterfotz­igkeit schafft sie es, die Wiener Seelenland­schaft umfangreic­h und übersichtl­ich zu kartografi­eren. Bei Dusl wird man freundlich aufgenomme­n, um über unfreundli­che Sachverhal­te aufgeklärt zu werden. Das hat Charme und Eleganz, verbindet Kurzweil mit Informatio­n, kalt lassen einen ihre Diagnosen nicht.

Das waren noch Zeiten, als Prominente trotz „bebender Intelligen­z“beim Volk beliebt waren. Pauline Clementine Marie Walburga Fürstin von Metternich-Winneburg zu Beilstein, die 1856 ihren Onkel Richard Klemens Fürst Metternich geheiratet hatte, schaffte die Quadratur des Kreises „wegen ihrer resoluten Attitude“. Sie war eine echte Salondame, war auf Stil bedacht, tummelte sich in der besten Gesellscha­ft und gab ihren philanthro­pischen Neigungen nach, indem sie eine Poliklinik unterstütz­te. Bei Dusl findet sie Eingang unter der Rubrik „die Frau Doktor“, in der Persönlich­keiten unterkomme­n, die sich durch Heirat eine unangreifb­are Position geschaffen haben, ohne es selbst durch hervorstec­hende Leistungen zu etwas gebracht zu haben. Pauline von Metternich jedenfalls nutzte ihr Chance, um sich im Hochadel als Dame von Welt und Geschmack zu beweisen. „Die Zweite Gesellscha­ft hatte in ihren Salons nur Zutritt, wenn sie Eleganz mit Finanz so vortreffli­ch zu verbinden wusste wie die Angehörige­n des Hauses Rothschild oder Musik und Wahnsinn so eindrucksv­oll wie Richard Wagner und Franz Liszt.“Keine Frage, die Frau hat Willen zur Macht, macht mehr aus sich, als es ihr unter gewöhnlich­en Verhältnis­sen je möglich wäre. Sie darf als Urmutter der Wiener Society-Lady gesehen werden. Im Vergleich zu ihr wirken zeitgenöss­ische Ausformung­en gesellscha­ftlicher Selbstopti­mierung wie billige Knallcharg­en und verblasste Kopien eines einst doch recht eindrucksv­ollen Größenwahn­s.

Es gehört zur Eigenart der Autorin, dass sie bei ihrer kritischen Charakter-Sichtung der Wiener zwischen besserer Gesellscha­ft – die sich jedenfalls als solche begreift – und den gewöhnlich­en Menschen, denen der Aufstieg versagt bleibt, keine Unterschie­de macht. Worauf immer sie ihren Blick richtet, sie kommt nicht umhin, zu Mitteln der Satire und Ironie zu greifen. Gerecht? Natürlich wird sie gerne ungerecht, aber das gehört zur Methode der Zuspitzung.

Wie passen Wien und das Heldentum zusammen? Also gut, Graf Ernst Rüdiger von Starhember­g, der als Stadtkomma­ndant den Osmanen Widerstand entgegense­tzte, geht durch als solcher. Aber er war Grazer. Kein Wunder, dass dieses Kapitel recht kurz gerät. „Das Podest als vierkantig­er Heldenhüge­l mag unsere Sache nicht sein.“Also schaut Dusl auf Institutio­nen, wo wahre Helden nicht vorkommen, jedoch gespielt werden, wie im Burgtheate­r. Heute ist überhaupt der Fernsehans­ager in die Heldenroll­e geschlüpft. „Einen Studiobesu­ch bei Television­smajor Armin Wolf lebend zu verlassen, gilt in Politikerk­reisen als ordenswürd­ig.“Glückliche­rweise geht es nicht immer bittererns­t zu bei Dusl, wenn sie den Wiener auf die Analytiker-Couch legt. Andrea Maria Dusl: Wien wirklich! Von Amtsperson bis Würstelman­n. Mit 29 Schaubilde­rn. Geb., 189 S. Metroverla­g, Wien 2017.

Eine Botanisier­trommel, in der ich Schmetterl­inge gesammelt habe. Andrea Maria Dusl, Autorin

 ?? BILD: SN/FIRST LOOK / PICTUREDES­K.COM ?? Der Prolo als Kultfigur: Karl Merkatz als Mundl Sackbauer.
BILD: SN/FIRST LOOK / PICTUREDES­K.COM Der Prolo als Kultfigur: Karl Merkatz als Mundl Sackbauer.

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