Welches Buch ist das beste?
Schweiz. Am 11. November wird in Basel der Schweizer Buchpreis verliehen. Fünf Autoren sind in der engen Wahl.
Folgende fünf Autoren hoffen auf den Schweizer Buchpreis. Dieser soll seit 2008 – heuer zum zehnten Mal – die deutschsprachige Literatur aus der Schweiz über die Grenzen hinaus bekannt machen. Ein Blick auf die heurige Shortlist unterstreicht die Notwendigkeit des Unterfangens. Zwei Nominierte sind bei großen deutschen Verlagen untergekommen, die anderen erscheinen in kleinen Schweizer Verlagen, die kaum je die Chance bekommen, in Österreich und Deutschland wahrgenommen zu werden. Dass Handlungsbedarf besteht, beweist die Qualität der fünf Bücher, denen eine große Öffentlichkeit gewiss sein sollte.
Urs Faes
Die Tram ist das Motiv, das alles zusammenhält. Tag für Tag, wochenlang, fährt ein krebskranker Mann mit der Tram in die Klinik, um sich einer Behandlung zu unterziehen. Ob sie gelingt, ist offen, den Versuch unternehmen muss der Mann allemal.
Steigt er nicht in der Klinik aus, sondern fährt eine Station weiter, kommt er zum Friedhof. Kein Wunder, dass sich Gedanken an den Tod einstellen. Als „Fahrtenbuch“, wie Urs Faes seine jüngste Veröffentlichung nennt, ist diese in mehrfachem Sinn zu verstehen. Der Patient benützt die Tram, stellt seine Beobachtungen an und bekommt einen Ausschnitt aus der Zürcher Gesellschaft zu sehen. Die Fahrt in die Klinik löst eine Fahrt in die eigene Vergangenheit aus.
Der Vater, ein schweigsamer, verschlossener Mann, war Tramfahrer, und kurze Momente der Nähe stellten sich ein, wenn er den Buben mitnahm. Als gebrochenen Kranken erlebt er ihn nach einem Unfall, von dem sich der Vater nie mehr erholen sollte. Er zieht sich zurück, verfällt in jahrelanges Schweigen bis zum Tod. Als „Vaterfisch“bezeichnet ihn der kleine, behinderte Bruder, an dem der Größere hängt. Mit ihm erlebt er eine Freiheit, wie er sie nur von Mile, seiner Freundin, kennt. Die Fahrt durch das Leben erweist sich im Rückblick als eine Bewegung fort von den Wurzeln seiner Herkunft.
Urs Faes ist ein Sparsamkeitskünstler, der keine Szenen auswalzt, sie knapp anreißt, nichts ausschmückt, wie es der Erinnerung gebührt, die im Abstand zu den Ereignissen sentimental wird. Einen melancholischen Grundton weist das Buch dennoch auf, das passt zur Melodie des Abschieds, die im Hintergrund leise erklingt.
Julia Weber
Mit kaputten Familienverhältnissen kann auch Julia Weber in ihrem Debütroman aufwarten. Die Kinder Anais und Bruno leben in einer verrutschten Welt. Ihre Mutter trinkt, Kinder und Wohnung verwahrlosen, dann lässt sie die beiden im Stich. Die Beiden sind Kämpfernaturen, Hänsel und Gretel im Großstadtmilieu. „Als wären wir die nicht erledigte Arbeit von gestern“, so deutet Anais ihr ungeliebtes Dasein, also errichten die Kinder sich gegen Kränkungen, die sie zu erdulden haben, eine Gegenwelt.
Julia Weber schreibt keinen realistischen Roman, der zeigen will, wie es in Schweizer Familien heute zugeht. Sie geht parabelhaft vor und verleiht dem Drama der vergessenen Kinder einen poetischen, oft märchenhaften Anstrich. Das klappt deshalb, weil sich Anais die Welt ununterbrochen schönzureden versucht. Die Härten des Lebens redet sie klein. Alleingelassen, schaffen sie sich in der Wohnung ein Refugium aus Natur und Wildnis. Das ist ihre Antwort auf eine Zivilisation, in der sie keinen Platz finden. Natürlich, so viel Realistin ist Julia Weber, geht das nicht gut.
Martina Clavadetscher
Märchen spielen auch in Martina Clavadetschers Roman „Knochenlieder“eine Rolle. Sie greift auf drei Grimm-Märchen zurück, denen sie im Verfahren von Überschreibungen eine neue Identität anpasst. Die drei Teile ihres Romans „Knochenlieder“versetzen „Dornröschen“, „Rumpelstilzchen“und „Der singende Knochen“in eine düstere, sehr nahe an unserer Gegenwart angelehnte Zukunft.
Aussteiger ziehen sich aufs Land zurück, wo sie einen vormodernen Lebensstil durchziehen, die nächste Generation geht in die Stadt, die einem fortgeschrittenen Überwachungsstaat gleicht. Pippa macht nicht mit, als Hackerin sucht sie das System der Bevormundung und Tilgung des Ichs zu stören.
Diese Autorin hat sich ein strenges Sprachkonzept auferlegt. Sie versteht etwas von Musik, deshalb ist die Prosa rhythmisch organisiert, lyrische Passagen wechseln mit Beschreibungsprosa und dem Hackerjargon. Hier wird Gegenwart ins Düstere weitergedacht, in eine Verschärfung nationalistischer Kraftmeierei mit Zäunen, Drohnen und einem Riesenaufgebot an schwerbewaffneten Soldaten. Die Autorin stellt sich auf die Seite der rebellischen Naturen.
Lukas Holliger
Nach zahlreichen Theaterstücken und einem Band mit Kurzprosa hat sich Lukas Holliger dem Großformat des Romans zugewendet. Die Erfahrungen des Stückeschreibens hat er für seinen Roman genutzt. Er bleibt bei einem überschaubaren Personal, nimmt keine großen Ortswechsel vor und denkt in Szenen. Alles dreht sich um einen arbeitslosen Filmvorführer, für den sich alles um Klaus Halm dreht. Den hat er aus einer Menge von Passanten herausgepickt, um ihn zu beobachten und ihm ein Leben anzudichten. Er führt Buch über ein fremdes Leben, das stellvertretend für sein eigenes steht, in dem sich gar nichts ereignet.
Lukas Holliger führt vor, wie souverän ein Autor über seine wehrlosen Figuren verfügen darf. Das Buch ist voll von witzigen und aberwitzigen Situationen, ein bisschen böse und doch auch von Trauer gezeichnet über einen Kerl, der sich so gar nicht in die Gesellschaft einzupassen vermag.
Jonas Lüscher
Mit seinem zweiten Buch hat sich Jonas Lüscher schon als eine der aufregenden Stimmen der deutschsprachigen Literatur bemerkbar gemacht. Im neuen Roman kümmert er sich um den Rhetorikprofessor Richard Kraft, dem es gar nicht gut geht. Privat steht er vor verwüstetem Territorium, er braucht dringend Geld.
Das steht in Aussicht, als er in Silicon Valley einen Vortrag über die Preisfrage halten soll, weshalb alles, was ist, gut ist, und wir es dennoch verbessern können. Das sollte einem an Leibniz geschulten Denker nicht schwerfallen. Tut es aber doch, weil er in Zweifel stürzt und eigentlich nichts Gutes auszumachen imstande ist. Wie soll sich auch einer bewähren, dem Hölderlin und Schelling mehr bedeuten als der Computer-Kram in der Hochburg der Technologie-Industrie.
Jonas Lüscher lässt seinen Helden scheitern, macht das aber mit so viel Ironie, dass der Tragik reichlich Heiterkeit beigemengt ist. Und eine bestechende kritische Zeitdiagnose ohne moralische Verbissenheit liefert Lüscher obendrein.