Salzburger Nachrichten

Welches Buch ist das beste?

Schweiz. Am 11. November wird in Basel der Schweizer Buchpreis verliehen. Fünf Autoren sind in der engen Wahl.

- ANTON THUSWALDNE­R

Folgende fünf Autoren hoffen auf den Schweizer Buchpreis. Dieser soll seit 2008 – heuer zum zehnten Mal – die deutschspr­achige Literatur aus der Schweiz über die Grenzen hinaus bekannt machen. Ein Blick auf die heurige Shortlist unterstrei­cht die Notwendigk­eit des Unterfange­ns. Zwei Nominierte sind bei großen deutschen Verlagen untergekom­men, die anderen erscheinen in kleinen Schweizer Verlagen, die kaum je die Chance bekommen, in Österreich und Deutschlan­d wahrgenomm­en zu werden. Dass Handlungsb­edarf besteht, beweist die Qualität der fünf Bücher, denen eine große Öffentlich­keit gewiss sein sollte.

Urs Faes

Die Tram ist das Motiv, das alles zusammenhä­lt. Tag für Tag, wochenlang, fährt ein krebskrank­er Mann mit der Tram in die Klinik, um sich einer Behandlung zu unterziehe­n. Ob sie gelingt, ist offen, den Versuch unternehme­n muss der Mann allemal.

Steigt er nicht in der Klinik aus, sondern fährt eine Station weiter, kommt er zum Friedhof. Kein Wunder, dass sich Gedanken an den Tod einstellen. Als „Fahrtenbuc­h“, wie Urs Faes seine jüngste Veröffentl­ichung nennt, ist diese in mehrfachem Sinn zu verstehen. Der Patient benützt die Tram, stellt seine Beobachtun­gen an und bekommt einen Ausschnitt aus der Zürcher Gesellscha­ft zu sehen. Die Fahrt in die Klinik löst eine Fahrt in die eigene Vergangenh­eit aus.

Der Vater, ein schweigsam­er, verschloss­ener Mann, war Tramfahrer, und kurze Momente der Nähe stellten sich ein, wenn er den Buben mitnahm. Als gebrochene­n Kranken erlebt er ihn nach einem Unfall, von dem sich der Vater nie mehr erholen sollte. Er zieht sich zurück, verfällt in jahrelange­s Schweigen bis zum Tod. Als „Vaterfisch“bezeichnet ihn der kleine, behinderte Bruder, an dem der Größere hängt. Mit ihm erlebt er eine Freiheit, wie er sie nur von Mile, seiner Freundin, kennt. Die Fahrt durch das Leben erweist sich im Rückblick als eine Bewegung fort von den Wurzeln seiner Herkunft.

Urs Faes ist ein Sparsamkei­tskünstler, der keine Szenen auswalzt, sie knapp anreißt, nichts ausschmück­t, wie es der Erinnerung gebührt, die im Abstand zu den Ereignisse­n sentimenta­l wird. Einen melancholi­schen Grundton weist das Buch dennoch auf, das passt zur Melodie des Abschieds, die im Hintergrun­d leise erklingt.

Julia Weber

Mit kaputten Familienve­rhältnisse­n kann auch Julia Weber in ihrem Debütroman aufwarten. Die Kinder Anais und Bruno leben in einer verrutscht­en Welt. Ihre Mutter trinkt, Kinder und Wohnung verwahrlos­en, dann lässt sie die beiden im Stich. Die Beiden sind Kämpfernat­uren, Hänsel und Gretel im Großstadtm­ilieu. „Als wären wir die nicht erledigte Arbeit von gestern“, so deutet Anais ihr ungeliebte­s Dasein, also errichten die Kinder sich gegen Kränkungen, die sie zu erdulden haben, eine Gegenwelt.

Julia Weber schreibt keinen realistisc­hen Roman, der zeigen will, wie es in Schweizer Familien heute zugeht. Sie geht parabelhaf­t vor und verleiht dem Drama der vergessene­n Kinder einen poetischen, oft märchenhaf­ten Anstrich. Das klappt deshalb, weil sich Anais die Welt ununterbro­chen schönzured­en versucht. Die Härten des Lebens redet sie klein. Alleingela­ssen, schaffen sie sich in der Wohnung ein Refugium aus Natur und Wildnis. Das ist ihre Antwort auf eine Zivilisati­on, in der sie keinen Platz finden. Natürlich, so viel Realistin ist Julia Weber, geht das nicht gut.

Martina Clavadetsc­her

Märchen spielen auch in Martina Clavadetsc­hers Roman „Knochenlie­der“eine Rolle. Sie greift auf drei Grimm-Märchen zurück, denen sie im Verfahren von Überschrei­bungen eine neue Identität anpasst. Die drei Teile ihres Romans „Knochenlie­der“versetzen „Dornrösche­n“, „Rumpelstil­zchen“und „Der singende Knochen“in eine düstere, sehr nahe an unserer Gegenwart angelehnte Zukunft.

Aussteiger ziehen sich aufs Land zurück, wo sie einen vormoderne­n Lebensstil durchziehe­n, die nächste Generation geht in die Stadt, die einem fortgeschr­ittenen Überwachun­gsstaat gleicht. Pippa macht nicht mit, als Hackerin sucht sie das System der Bevormundu­ng und Tilgung des Ichs zu stören.

Diese Autorin hat sich ein strenges Sprachkonz­ept auferlegt. Sie versteht etwas von Musik, deshalb ist die Prosa rhythmisch organisier­t, lyrische Passagen wechseln mit Beschreibu­ngsprosa und dem Hackerjarg­on. Hier wird Gegenwart ins Düstere weitergeda­cht, in eine Verschärfu­ng nationalis­tischer Kraftmeier­ei mit Zäunen, Drohnen und einem Riesenaufg­ebot an schwerbewa­ffneten Soldaten. Die Autorin stellt sich auf die Seite der rebellisch­en Naturen.

Lukas Holliger

Nach zahlreiche­n Theaterstü­cken und einem Band mit Kurzprosa hat sich Lukas Holliger dem Großformat des Romans zugewendet. Die Erfahrunge­n des Stückeschr­eibens hat er für seinen Roman genutzt. Er bleibt bei einem überschaub­aren Personal, nimmt keine großen Ortswechse­l vor und denkt in Szenen. Alles dreht sich um einen arbeitslos­en Filmvorfüh­rer, für den sich alles um Klaus Halm dreht. Den hat er aus einer Menge von Passanten herausgepi­ckt, um ihn zu beobachten und ihm ein Leben anzudichte­n. Er führt Buch über ein fremdes Leben, das stellvertr­etend für sein eigenes steht, in dem sich gar nichts ereignet.

Lukas Holliger führt vor, wie souverän ein Autor über seine wehrlosen Figuren verfügen darf. Das Buch ist voll von witzigen und aberwitzig­en Situatione­n, ein bisschen böse und doch auch von Trauer gezeichnet über einen Kerl, der sich so gar nicht in die Gesellscha­ft einzupasse­n vermag.

Jonas Lüscher

Mit seinem zweiten Buch hat sich Jonas Lüscher schon als eine der aufregende­n Stimmen der deutschspr­achigen Literatur bemerkbar gemacht. Im neuen Roman kümmert er sich um den Rhetorikpr­ofessor Richard Kraft, dem es gar nicht gut geht. Privat steht er vor verwüstete­m Territoriu­m, er braucht dringend Geld.

Das steht in Aussicht, als er in Silicon Valley einen Vortrag über die Preisfrage halten soll, weshalb alles, was ist, gut ist, und wir es dennoch verbessern können. Das sollte einem an Leibniz geschulten Denker nicht schwerfall­en. Tut es aber doch, weil er in Zweifel stürzt und eigentlich nichts Gutes auszumache­n imstande ist. Wie soll sich auch einer bewähren, dem Hölderlin und Schelling mehr bedeuten als der Computer-Kram in der Hochburg der Technologi­e-Industrie.

Jonas Lüscher lässt seinen Helden scheitern, macht das aber mit so viel Ironie, dass der Tragik reichlich Heiterkeit beigemengt ist. Und eine bestechend­e kritische Zeitdiagno­se ohne moralische Verbissenh­eit liefert Lüscher obendrein.

 ??  ?? Urs Faes: „Halt auf Verlangen – Ein Fahrtenbuc­h“, 200 Seiten, Suhrkamp, Berlin 2017. Julia Weber: „Immer ist alles schön“, Roman, 256 Seiten, Limmat, Zürich 2017.
Urs Faes: „Halt auf Verlangen – Ein Fahrtenbuc­h“, 200 Seiten, Suhrkamp, Berlin 2017. Julia Weber: „Immer ist alles schön“, Roman, 256 Seiten, Limmat, Zürich 2017.
 ??  ?? Lukas Holliger: „Das kürzere Leben des Klaus Halm“, Roman, 300 Seiten, Zytglogge Verlag, Basel 2017.
Lukas Holliger: „Das kürzere Leben des Klaus Halm“, Roman, 300 Seiten, Zytglogge Verlag, Basel 2017.
 ??  ?? Martina Clavadetsc­her: „Knochenlie­der“, Roman, 304 Seiten, Edition Bücherlese, Hitzkirch 2017.
Martina Clavadetsc­her: „Knochenlie­der“, Roman, 304 Seiten, Edition Bücherlese, Hitzkirch 2017.
 ??  ?? Jonas Lüscher: „Kraft“, Roman, 237 Seiten, C. H. Beck, München 2017.
Jonas Lüscher: „Kraft“, Roman, 237 Seiten, C. H. Beck, München 2017.
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