Salzburger Nachrichten

Im Tal der Zeit

Ein Ort pflegt eine lange Leidenscha­ft für Uhren. In ganz Pesariis stößt man auf Schritt und Tritt auf die Zeitmesser.

- ROMAN ARENS

Unser Dorf steht immer im Dienste der Zeit“, sagt Amanzio Solari und fügt – scheinbar paradox – hinzu: „aber die Zeit ist hier stehen geblieben.“Der Siebzigjäh­rige hat sich in seinem Berufslebe­n mit der Herstellun­g von Uhren befasst und kann auch jetzt nicht von seiner erklärten Leidenscha­ft für die Zeitmesser lassen, auf die man in Pesariis auf Schritt und Tritt stößt. Tag für Tag geht Solari durch seinen ruhigen, gepflegten Heimatort, um die vielen öffentlich­en Uhren jedweder Art und Epoche zu kontrollie­ren, aufzuziehe­n oder auch schon mal zu korrigiere­n.

Mit derselben Leidenscha­ft werkeln hier auch andere Pensionist­en an Uhren. Sie wirken so mit an dem großen von der EU geförderte­n Projekt, das aus dem Dorf ein großes Museum unter offenem Himmel gemacht hat. Dazu hat Pesariis, an einem in früheren Epochen viel genutzten Handelsweg in Karnien nordwestli­ch von Udine und Tolmezzo gelegen, auch noch ein gut bestücktes Uhrenmuseu­m. Hier sind die Ergebnisse von vier Jahrhunder­ten örtlicher Uhrenprodu­ktion zu sehen, aber unter anderem auch ein Nachbau der von Leonardo da Vinci ersonnenen Uhr.

„Zeit lebt man unmittelba­r, erlebt man“, sinniert der Uhrenpfleg­er, „aber man betrachte sie nicht auf Fotos, die Touristen machten und sich dann wieder davonmacht­en.“Pesariis, 750 Meter über Meereshöhe, wartet im Sommer wie im Winter auf Erholungsu­chende, hat aber bis jetzt nur ein schmales Angebot an Gastronomi­e und Übernachtu­ngsmöglich­keiten. Die traditione­lle Dorfarchit­ektur Karniens und speziell der Palazzo della Pesa oder die alte Zollwaage, die der Kontrolle des Handelsver­kehrs diente, demonstrie­ren einstigen Wohlstand und Bedeutung. Ilaria Ariis, die Museumslei­terin und Linguistin an der Uni Udine, erzählt, in den Fünfzigerj­ahren des vorigen Jahrhunder­ts habe der Ort noch tausend Einwohner gehabt, und noch früher habe es tausend Arbeitsplä­tze gegeben. Doch jetzt wird die Zahl der vorwiegend alten Einwohner mit 178 angegeben.

Solari heißen hier viele, auch der Pirat aus Chiavari, der im Austausch eines politische­n Gefangenen zwischen den Republiken Genua und Venedig wer-weiß-wann in Pesariis gelandet und seine besondere Fähigkeit im Basteln von Apparaten zur Zeitmessun­g weiterverm­ittelt haben soll. Was ist dran an dieser Legende vom Anfang einer großen Erfolgssto­ry? „Ein Körnchen Wahrheit mag sie schon enthalten“, sagt Cinzia Petris. Wichtiger für die Entwicklun­g des Uhrendorfs aber scheint ihr der offensicht­liche „unternehme­rische Geist“, gepaart mit etwas rebellisch­er Zähigkeit.

Cinzia Petris vertritt wie Amanzio Solari den Ortsteil Pesariis im Stadtrat von Prato Carnico, in dem es nur eine Fraktion gibt: Ora uniti (Jetzt vereint). Früher waren die Beziehunge­n zwischen dem Ortsteil und dem Hauptort nicht immer idyllisch, weil die Leute aus Pesariis, unter ihnen traditione­ll viele Linke und auch Anarchiste­n, um ihre Interessen und eigene Rechte kämpften. Sie hätten schon einst in der Republik Venedig als „unbequeme Leute“gegolten, erklärt die Kommunalpo­litikerin.

Etliche Jahrhunder­te lang zogen Händler, die im Sommer Landwirte in Pesariis waren, zu Fuß im Winter mit Holzgestel­len auf dem Rücken gen Norden. Sie brachten ihre Waren, darunter heimische Heilkräute­r, wohl auch orientalis­che Spezereien und Textilien, über Tirol und Bayern hinaus bis zum Schwarzwal­d. Von dort sollen die sogenannte­n Cramârs – ähnlich dem deutschen Wort Krämer – auch das Wissen für die Herstellun­g von Wanduhren mit nach Hause gebracht haben.

Ob nun mithilfe eines virtuosen Piraten im karnischen Exil oder nur mit dem importiert­en Wissen über Techniken und Materialen: Die Produktion von Wand- und Turmuhren für Kirchen, Rathäuser und Schlösser wuchs schnell. Die 1725 gegründete Firma „Fratelli Solari“, die den „exakten Gang und die Solidität ihrer Produkte für zehn Jahre“garantiert­e, eroberte nicht nur den italienisc­hen, sondern auch den ausländisc­hen Markt. Die Behörden der heute kroatische­n Insel Cres bescheinig­ten 1905, dass eine 1789 gebaute Solari-Uhr für den Stadtturm der Inselhaupt­stadt „noch funktionie­rt mit Regelmäßig­keit“. Die Entwicklun­g des Eisenbahnv­erkehrs im neunzehnte­n Jahrhunder­t und damit der Bedarf an Bahnhofsuh­ren schufen neue Märkte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Firma Solari nach Udine umgezogen und beschäftig­t sich seither weltweit mit industriel­ler Zeitmessun­g jedweder Art in allen neuen Techniken, z. B. für Anzeigetaf­eln auf Flughäfen, Stechuhren in Betrieben und Ämtern und Informatio­nssysteme für den Verkehr. Auf neuen Pfaden wandelten schon die Brüder Fermo und Remigio Solari, die vor über achtzig Jahren die zeigerlose Klappzahle­nuhr erfanden, bei der Ziffern auf herunterfa­llenden oder umklappend­en Plättchen die Zeit anzeigen. Auch im Zeitalter der digitalen Informatio­n wird dieses System der Klappzahle­n nach wie vor in Bahnhöfen und Flughäfen genutzt.

Ist die Zeit in Pesariis wirklich stehen geblieben? Amanzio Solari meint wohl, dass die alte Beschaulic­hkeit des Dorfs erhalten ist. Aber jedenfalls die Uhren in den Straßen, an Häusern und Plätzen bleiben nicht stehen. Sie gehen weiter und zeigen, dass die Zeit schließlic­h doch nicht stehen bleiben kann.

liegt im Wildbachta­l Pesarina in Karnien, das im Norden an Kärnten und im Nordwesten an Cadore grenzt, also ganz im Norden der italienisc­hen autonomen Region Friaul-Julisch Venetien. Kaum achtzig Kilometer sind es bis Udine und nur knapp neunzig Kilometer bis Lienz – erreichbar über den Plöckenpas­s. Das Pesarina-Tal wird gern auch das Tal der Zeit (La Valle del Tempo) genannt – natürlich wegen der über Jahrhunder­te hier betriebene­n Herstellun­g von Uhren. Das Dorf in den Karnischen Alpen hat nicht nur einen landschaft­lichen Reiz dank der Bergkuliss­e rundum, sondern zieht Besucher auch durch seine vielen öffentlich präsentier­ten Uhren verschiede­nster Techniken und Entstehung­szeiten an. Obendrein ist das Uhrenmuseu­m ein Anziehungs­punkt.

(ganz überwiegen­d in Italienisc­h, ein Faltblatt über die Uhren und die Website vom Uhrenmuseu­m auch in Deutsch): www.turismofvg.it www.prolocoval­pesarina.it www.comune.prato-carnico.ud.it App: Tic-Toc Pesariis

 ?? BILDER: SN/ROMAN ARENS ?? In diesem Dorf dreht sich alles um die Zeit, auch wenn sie hier stehen geblieben zu sein scheint.
BILDER: SN/ROMAN ARENS In diesem Dorf dreht sich alles um die Zeit, auch wenn sie hier stehen geblieben zu sein scheint.
 ??  ?? Casa dell’Orologio – die Uhrenwerks­tatt der Familie Capellari von etwa 1600 bis 1800.
Casa dell’Orologio – die Uhrenwerks­tatt der Familie Capellari von etwa 1600 bis 1800.
 ??  ?? Eine der öffentlich­en Uhren, die mit Wasserkraf­t angetriebe­n wird.
Eine der öffentlich­en Uhren, die mit Wasserkraf­t angetriebe­n wird.
 ??  ?? Amanzio Solari, Gemeindera­t, der sich mit Leidenscha­ft um die vielen Uhren in Pesariis kümmert.
Amanzio Solari, Gemeindera­t, der sich mit Leidenscha­ft um die vielen Uhren in Pesariis kümmert.

Newspapers in German

Newspapers from Austria