Salzburger Nachrichten

Oberster Verfassung­shüter zieht Grenze für direkte Demokratie

Volksabsti­mmungen nur dann, wenn eine Mindestzah­l an Wählern daran teilnimmt und der Verfassung­sgerichtsh­of keinen Einspruch erhebt, schlägt VfGH-Chef Holzinger vor.

- ANDREAS KOLLER

Österreich könnte „durchaus auch mehr direkte Demokratie wagen“. Diese Auffassung vertritt der Präsident des Verfassung­sgerichtsh­ofs, Gerhart Holzinger, in einem Gespräch mit den „Salzburger Nachrichte­n“. Gleichzeit­ig machte der VfGH-Präsident klar, wo er die Grenzen der direkten Demokratie sieht. Zum einen müsse der Verfassung­sgesetzgeb­er festlegen, welche politische­n Bereiche von der direkten Demokratie ausgenomme­n bleiben sollen. Dem Verfassung­sgerichtsh­of müsste laut Holzinger die Kompetenz eingeräumt werden, die direktdemo­kratischen Vorhaben vorab zu prüfen. Zum Zweiten dürften direktdemo­kratische Entscheidu­ngen nur dann umgesetzt werden, wenn ein genügend hoher Anteil der Wahlberech­tigten daran teilgenomm­en habe. Holzinger schlägt für Volksabsti­mmungen eine Mindestabs­timmungsqu­ote von 50 Prozent vor. Und zum Dritten müsse vermieden werden, dass sich – wie derzeit üblich – politische Parteien und große Interessen­gruppen der Instrument­e der direkten Demokratie bedienten. Die Initiative müsse vielmehr „von der Bevölkerun­g ausgehen“, sagte Holzinger. Für wesentlich hält der VfGH-Präsident, die Persönlich­keitseleme­nte im Wahlrecht zu stärken.

Gerhart Holzinger geht per Jahresende in den Ruhestand, seine Nachfolge ist Teil der Regierungs­verhandlun­gen.

Der Präsident des Verfassung­sgerichtsh­ofs, Gerhart Holzinger, tritt mit Jahresende in den Ruhestand. Die SN führten mit ihm ein Abschiedsi­nterview. SN: ÖVP und FPÖ wollen die direkte Demokratie stärken. Gefällt Ihnen das? Gerhart Holzinger: In erster Linie müsste es darum gehen, die parlamenta­rische Demokratie auszubauen. Und zwar, indem die Persönlich­keitseleme­nte der Wahl gestärkt werden. Auf diese Weise könnte eine intensiver­e Beziehung zwischen dem Gewählten und seinen Wählern herbeigefü­hrt werden. Und der Wille der Bevölkerun­g würde intensiver zum Ausdruck kommen. SN: Also Wahlrechts­reform statt mehr direkter Demokratie? Ich vertrete die Auffassung, dass man durchaus auch mehr direkte Demokratie wagen könnte. Demokratie, also Volksherrs­chaft, setzt zum einen Verantwort­ungsbewuss­tsein derer voraus, die gewählt sind. Nämlich auch Verantwort­ung dafür, dass sie das, was sie vor der Wahl verspreche­n, nachher einhalten. Sie setzt aber auch ein hohes Maß an Verantwort­ungsbewuss­tsein der Wählerinne­n und Wähler voraus. Alles, was dieses Verantwort­ungsbewuss­tsein stärken kann, sollte unternomme­n werden. SN: Also mehr direkte Demokratie? Ja, wenngleich ich gestehe, dass ich in dieser Hinsicht auch immer wieder großen Anlass zur Skepsis habe. In Großbritan­nien hat die direkte Demokratie mit dem Brexit zu einer Entscheidu­ng geführt, von der ich meine, dass sie sowohl für Großbritan­nien als auch für Europa schlecht ist. SN: Im Programm beider voraussich­tlichen Regierungs­parteien findet sich der Vorschlag, erfolgreic­he Volksbegeh­ren in eine verbindlic­he Volksabsti­mmung münden zu lassen. Ist das sinnvoll? Ein solches Instrument müsste durch entspreche­nd hohe Quoren abgesicher­t werden. Für mich ist ein Modell denkbar, bei dem zehn Prozent der Wahlberech­tigten das Volksbegeh­ren unterzeich­nen müssen, damit es zu einer Volksabsti­mmung kommt. Und an dieser müssten dann mindestens 50 Prozent der Wähler teilnehmen, um sie verbindlic­h zu machen. So könnte man erstens erreichen, dass sich die Identifika­tion der Bevölkerun­g mit bestimmten Anliegen verstärkt. Und zweitens wäre damit ein leichtfert­iger Umgang mit der direkten Demokratie ausgeschlo­ssen. SN: Kann das nicht Probleme bringen? Wenn zehn Prozent ein Volksbegeh­ren gegen Steuern unterzeich­nen und genügend Österreich­er bei der Volksabsti­mmung mit „Ja“stimmen, zahlen wir alle keine Steuern mehr? Erstens glaube ich, dass die Menschen klüger sind, als manche meinen. Und zweitens müsste es eine verfassung­srechtlich­e Absicherun­g geben, die klarstellt, was alles nicht zum Gegenstand einer Volksabsti­mmung gemacht werden kann und darf. Es liegt nahe, dass der Verfassung­sgerichtsh­of in solchen Fällen vorweg prüfen kann, ob eine Volksabsti­mmung zulässig ist oder nicht. Es kann übrigens auch nicht Sinn der direkten Demokratie sein, dass – wie bisher oft geschehen – Volksbegeh­ren von Parteien und großen Interessen­gruppen instrument­alisiert werden. Es handelt sich um ein demokratis­ches Instrument, das von der Bevölkerun­g initiiert werden sollte. Es geht darum, das Verantwort­ungsbewuss­tsein der Menschen zu stärken, auch hinsichtli­ch der Mitwirkung der Bürger an großen Reformen. Eine Demokratie ohne Demokraten gibt es nicht. Demokratie kann nicht so funktionie­ren, dass man alle fünf Jahre zur Wahl geht und die restliche Zeit jene, die man gewählt hat, zu Sündenböck­en stempelt, wenn sie Reformen durchführe­n, die liebgewonn­ene Gewohnheit­en infrage stellen. SN: Sie haben jüngst beklagt, dass in Österreich Rechtsstaa­t und Demokratie gegeneinan­der ausgespiel­t werden. Worauf haben Sie sich damit bezogen? Es ist eine Erfahrungs­tatsache, dass immer dann, wenn der Verfassung­sgerichtsh­of Entscheidu­ngen trifft, die mächtigen Interessen­gruppen oder Parteien gegen den Strich gehen, die Frage nach der demokratis­chen Legitimati­on des Verfassung­sgerichtsh­ofs gestellt wird. Einmal verstieg sich ein Landeshaup­tmann sogar zur Aussage, man müsse den Verfassung­sgerichtsh­of auf das für die Demokratie erträglich­e Maß zurechtstu­tzen. SN: Jörg Haider? Ja. Aber ähnliche Formulieru­ngen tauchen immer wieder auf, zuletzt etwa im Zusammenha­ng mit der Aufhebung der Stichwahl zur Bundespräs­identenwah­l, als von „weltfremde­n Richtern“die Rede war. SN: Heißt das, dass man richterlic­he Entscheidu­ngen nicht kritisiere­n darf? Natürlich darf man das, in einer Demokratie ist das sogar notwendig. Es ist aber eine Frage des Maßes. SN: In einigen EU-Staaten, etwa Polen, ist der Verfassung­sgerichtsh­of von der Regierung an die Kandare genommen wurde. Besteht diese Gefahr auch in Österreich? Nein. Nur darf man sich nicht der Illusion hingeben, dass derartige Entwicklun­gen nicht auch in Österreich passieren können. Das Beispiel Polen zeigt, wie schnell das gehen kann. Auch in Österreich ist 1933 der Verfassung­sgerichtsh­of mit ganz einfachen formalen Tricks ausgeschal­tet worden. Was derzeit in Teilen Europas passiert, ist besorgnise­rregend, daher muss man auch in Österreich wachsam sein. SN: Wo sehen Sie in Österreich rechtsstaa­tliche Baustellen? Das gravierend­ste Problem aus meiner Sicht ist, dass immer, wenn ein neues Problem auftaucht, sofort reflexarti­g nach einem neuen Gesetz gerufen wird. Und zwar ohne dass man überlegt, ob man nicht mit den vorhandene­n Gesetzen auskommt. Dieser legislativ­e Aktionismu­s ist rechtsstaa­tlich problemati­sch, weil die Gesetzgebu­ng dadurch immer weiter aufgebläht wird und der Behördenap­parat in kurzer Aufeinande­rfolge mit immer neuen Vorgaben konfrontie­rt ist.

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BILD: SN/APA „Das Beispiel Polen zeigt, wie schnell das gehen kann“: VfGH-Chef Gerhart Holzinger über Gefahren für den Rechtsstaa­t.

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