Oberster Verfassungshüter zieht Grenze für direkte Demokratie
Volksabstimmungen nur dann, wenn eine Mindestzahl an Wählern daran teilnimmt und der Verfassungsgerichtshof keinen Einspruch erhebt, schlägt VfGH-Chef Holzinger vor.
Österreich könnte „durchaus auch mehr direkte Demokratie wagen“. Diese Auffassung vertritt der Präsident des Verfassungsgerichtshofs, Gerhart Holzinger, in einem Gespräch mit den „Salzburger Nachrichten“. Gleichzeitig machte der VfGH-Präsident klar, wo er die Grenzen der direkten Demokratie sieht. Zum einen müsse der Verfassungsgesetzgeber festlegen, welche politischen Bereiche von der direkten Demokratie ausgenommen bleiben sollen. Dem Verfassungsgerichtshof müsste laut Holzinger die Kompetenz eingeräumt werden, die direktdemokratischen Vorhaben vorab zu prüfen. Zum Zweiten dürften direktdemokratische Entscheidungen nur dann umgesetzt werden, wenn ein genügend hoher Anteil der Wahlberechtigten daran teilgenommen habe. Holzinger schlägt für Volksabstimmungen eine Mindestabstimmungsquote von 50 Prozent vor. Und zum Dritten müsse vermieden werden, dass sich – wie derzeit üblich – politische Parteien und große Interessengruppen der Instrumente der direkten Demokratie bedienten. Die Initiative müsse vielmehr „von der Bevölkerung ausgehen“, sagte Holzinger. Für wesentlich hält der VfGH-Präsident, die Persönlichkeitselemente im Wahlrecht zu stärken.
Gerhart Holzinger geht per Jahresende in den Ruhestand, seine Nachfolge ist Teil der Regierungsverhandlungen.
Der Präsident des Verfassungsgerichtshofs, Gerhart Holzinger, tritt mit Jahresende in den Ruhestand. Die SN führten mit ihm ein Abschiedsinterview. SN: ÖVP und FPÖ wollen die direkte Demokratie stärken. Gefällt Ihnen das? Gerhart Holzinger: In erster Linie müsste es darum gehen, die parlamentarische Demokratie auszubauen. Und zwar, indem die Persönlichkeitselemente der Wahl gestärkt werden. Auf diese Weise könnte eine intensivere Beziehung zwischen dem Gewählten und seinen Wählern herbeigeführt werden. Und der Wille der Bevölkerung würde intensiver zum Ausdruck kommen. SN: Also Wahlrechtsreform statt mehr direkter Demokratie? Ich vertrete die Auffassung, dass man durchaus auch mehr direkte Demokratie wagen könnte. Demokratie, also Volksherrschaft, setzt zum einen Verantwortungsbewusstsein derer voraus, die gewählt sind. Nämlich auch Verantwortung dafür, dass sie das, was sie vor der Wahl versprechen, nachher einhalten. Sie setzt aber auch ein hohes Maß an Verantwortungsbewusstsein der Wählerinnen und Wähler voraus. Alles, was dieses Verantwortungsbewusstsein stärken kann, sollte unternommen werden. SN: Also mehr direkte Demokratie? Ja, wenngleich ich gestehe, dass ich in dieser Hinsicht auch immer wieder großen Anlass zur Skepsis habe. In Großbritannien hat die direkte Demokratie mit dem Brexit zu einer Entscheidung geführt, von der ich meine, dass sie sowohl für Großbritannien als auch für Europa schlecht ist. SN: Im Programm beider voraussichtlichen Regierungsparteien findet sich der Vorschlag, erfolgreiche Volksbegehren in eine verbindliche Volksabstimmung münden zu lassen. Ist das sinnvoll? Ein solches Instrument müsste durch entsprechend hohe Quoren abgesichert werden. Für mich ist ein Modell denkbar, bei dem zehn Prozent der Wahlberechtigten das Volksbegehren unterzeichnen müssen, damit es zu einer Volksabstimmung kommt. Und an dieser müssten dann mindestens 50 Prozent der Wähler teilnehmen, um sie verbindlich zu machen. So könnte man erstens erreichen, dass sich die Identifikation der Bevölkerung mit bestimmten Anliegen verstärkt. Und zweitens wäre damit ein leichtfertiger Umgang mit der direkten Demokratie ausgeschlossen. SN: Kann das nicht Probleme bringen? Wenn zehn Prozent ein Volksbegehren gegen Steuern unterzeichnen und genügend Österreicher bei der Volksabstimmung mit „Ja“stimmen, zahlen wir alle keine Steuern mehr? Erstens glaube ich, dass die Menschen klüger sind, als manche meinen. Und zweitens müsste es eine verfassungsrechtliche Absicherung geben, die klarstellt, was alles nicht zum Gegenstand einer Volksabstimmung gemacht werden kann und darf. Es liegt nahe, dass der Verfassungsgerichtshof in solchen Fällen vorweg prüfen kann, ob eine Volksabstimmung zulässig ist oder nicht. Es kann übrigens auch nicht Sinn der direkten Demokratie sein, dass – wie bisher oft geschehen – Volksbegehren von Parteien und großen Interessengruppen instrumentalisiert werden. Es handelt sich um ein demokratisches Instrument, das von der Bevölkerung initiiert werden sollte. Es geht darum, das Verantwortungsbewusstsein der Menschen zu stärken, auch hinsichtlich der Mitwirkung der Bürger an großen Reformen. Eine Demokratie ohne Demokraten gibt es nicht. Demokratie kann nicht so funktionieren, dass man alle fünf Jahre zur Wahl geht und die restliche Zeit jene, die man gewählt hat, zu Sündenböcken stempelt, wenn sie Reformen durchführen, die liebgewonnene Gewohnheiten infrage stellen. SN: Sie haben jüngst beklagt, dass in Österreich Rechtsstaat und Demokratie gegeneinander ausgespielt werden. Worauf haben Sie sich damit bezogen? Es ist eine Erfahrungstatsache, dass immer dann, wenn der Verfassungsgerichtshof Entscheidungen trifft, die mächtigen Interessengruppen oder Parteien gegen den Strich gehen, die Frage nach der demokratischen Legitimation des Verfassungsgerichtshofs gestellt wird. Einmal verstieg sich ein Landeshauptmann sogar zur Aussage, man müsse den Verfassungsgerichtshof auf das für die Demokratie erträgliche Maß zurechtstutzen. SN: Jörg Haider? Ja. Aber ähnliche Formulierungen tauchen immer wieder auf, zuletzt etwa im Zusammenhang mit der Aufhebung der Stichwahl zur Bundespräsidentenwahl, als von „weltfremden Richtern“die Rede war. SN: Heißt das, dass man richterliche Entscheidungen nicht kritisieren darf? Natürlich darf man das, in einer Demokratie ist das sogar notwendig. Es ist aber eine Frage des Maßes. SN: In einigen EU-Staaten, etwa Polen, ist der Verfassungsgerichtshof von der Regierung an die Kandare genommen wurde. Besteht diese Gefahr auch in Österreich? Nein. Nur darf man sich nicht der Illusion hingeben, dass derartige Entwicklungen nicht auch in Österreich passieren können. Das Beispiel Polen zeigt, wie schnell das gehen kann. Auch in Österreich ist 1933 der Verfassungsgerichtshof mit ganz einfachen formalen Tricks ausgeschaltet worden. Was derzeit in Teilen Europas passiert, ist besorgniserregend, daher muss man auch in Österreich wachsam sein. SN: Wo sehen Sie in Österreich rechtsstaatliche Baustellen? Das gravierendste Problem aus meiner Sicht ist, dass immer, wenn ein neues Problem auftaucht, sofort reflexartig nach einem neuen Gesetz gerufen wird. Und zwar ohne dass man überlegt, ob man nicht mit den vorhandenen Gesetzen auskommt. Dieser legislative Aktionismus ist rechtsstaatlich problematisch, weil die Gesetzgebung dadurch immer weiter aufgebläht wird und der Behördenapparat in kurzer Aufeinanderfolge mit immer neuen Vorgaben konfrontiert ist.