Heimat bist du vieler Kammern
Bei den Regierungsverhandlungen zwischen ÖVP und FPÖ steht auch eine Reform des Kammerstaates auf dem Programm. Und damit ein Modell, das die Republik bisher prägte.
WIEN. Bisher glichen sie uneinnehmbaren Festungen. Seit die ÖVP mit der FPÖ über eine Regierung verhandelt, sind sie allerdings ins Wanken geraten. Österreichs Kammern, von der Wirtschafts- bis zur Arbeiterkammer, von der Ärzte- bis zur Rechtsanwaltskammer, droht mit dem Aus für die Pflichtmitgliedschaft ein wesentliches Standbein ihrer Macht und ihre Finanzierung abhandenzukommen. Vor allem die Freiheitlichen drängen auf ein Ende der Pflichtmitgliedschaft. Dies ist bereits seit Jahrzehnten ein Kernpunkt blauer Politik. Auch die Neos sind vehemente Gegner des Umstands, dass sich die Betroffenen gegen die Zugehörigkeit zu „ihrer“Kammer nicht zur Wehr setzen können.
Heimat bist du vieler Kammern: Die Unternehmer sind in der Wirtschaftskammer organisiert, die Arbeiter und Angestellten in der Arbeiterkammer, die Bauern in der Landwirtschaftskammer. Dazu kommen noch die Freien Berufe, von Notaren bis zu Tierärzten, die ebenfalls in Interessenvertretungen zusammengeschlossen sind.
Die großen Kammern (Arbeiter, Wirtschaft, Bauern) bilden, gemeinsam mit dem Österreichischen Gewerkschaftsbund, die Sozialpartnerschaft. Diese bestimmt wesentlich das wirtschaftliche und politische Leben der Republik mit. Der Einfluss der Sozialpartner geht weit über die Verhandlungen von Kollektivverträgen und Lohnerhöhungen für die Angestellten und Arbeiter hinaus.
Die Arbeiterkammer (AK) erstreckt ihre Macht und ihren Einfluss auf rund 200 bundesweite Einrichtungen, etwa das Arbeitsmarktservice, die Unfallversicherungsanstalt, die Pensionsversicherung, den Hauptverband der Sozialversicherungsträger, die Kommission über die Heilmittelevaluierung, das Bundeseinigungsamt, die Codexkommission für das Lebensmittelbuch, die Gleichbehandlungskommission und das Kartellgericht. Die Arbeiterkammer nominiert Laienrichter in den Arbeits- und Sozialgerichten und den Verwaltungsgerichten. Ihre Vertreter sitzen in den Organen der Gebietskrankenkassen und den Kommissionen für die Lehrabschlussprüfungen. Die AK ist auch im Beirat für Wirtschaftsund Sozialfragen der Sozialpartner vertreten und in für die Arbeitnehmer wichtigen Vereinen oder Institutionen, etwa im Verein für Konsumenteninformation oder im Wirtschaftsforschungsinstitut.
Meist sitzen den AK-Vertretern in diesen Gremien Vertreter der Wirtschaftskammer (WKÖ) gegenüber. Auch in der Bildung sind Wirtschaftsund Arbeiterkammern aktiv. Sie sind Träger von Fachhochschulen, des Wirtschaftsförderungsinstituts (Wifi) und des Berufsförderungsinstituts (bfi) und sie geben sich mit ihren Betriebssportvereinigungen auch sportlich.
Neben diesen sozialpartnerschaftlichen Aufgaben übernehmen die Kammern auch Aufgaben, die eigentlich der Staat organisieren müsste. Die Arbeiterkammer etwa im Bereich Konsumentenschutz, wofür sie Geld von der öffentlichen Hand bekommt. Die Landwirtschaftskammer wiederum ist für die Abwicklung von öffentlichen Förderungen zuständig.
Die Wirtschaftskammer erfüllt im eigenen Wirkungsbereich staatliche Verwaltungsaufgaben, wie etwa die Abwicklung von EU-Förderungen, und liefert Daten für die Statistik Austria, die die Wirtschaft betreffen. Im übertragenen Wirkungsbereich (dabei ist die WKÖ an Weisungen staatlicher Organe gebunden) werden die Stellen für Lehrabschluss- und Meisterprüfungen betrieben. Außerdem werden Beihilfen für die betriebliche Ausbildung von Lehrlingen verwaltet, Prüfungsstoffverordnungen für die Meister- und Befähigungsprüfungen erstellt oder ganz aktuell, eine Gesellschaft eingerichtet, über die Einlagensicherung und Anlegerentschädigung bei Kreditinstituten gewährleistet wird.
Finanziert werden die Kammern durch Mitgliedsbeiträge. Die AKUmlage beträgt 0,5 Prozent des Bruttolohns, maximal 14,50 Euro pro Monat, zu entrichten von Arbeitgebern und Arbeitnehmer. Österreichweit nimmt die AK mehr als 400 Millionen Euro pro Jahr ein. Auch das Vermögen der AK bewegt sich in diesem Bereich. Diese Zahlen stammen aus der Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage des Sozialministers.
Die Wirtschaftskammer ist finanziell noch potenter als die Arbeiterkammer. Ihr Vermögen liegt bei mehr als einer Milliarde Euro. Die Mitgliedsbeiträge, die sich bei der Kammer nach Umsatz und Beschäftigungszahl der Betriebe richten, wurden in einer parlamentarischen Anfrage mit knapp knapp 880 Millionen pro Jahr angegeben.
Die Kritik an den Kammern, die von FPÖ und Neos geäußert wird, richtet sich zum einen gegen den politischen Einfluss der Kammern, auch weil sie von SPÖ und ÖVP dominiert werden, und zum anderen wird kritisiert, dass sie von den Mitgliedern zu viel Geld kassieren und darüber hinaus mit den Mitteln nicht sparsam wirtschaften. Wobei es bei der WKÖ vor allem die großen Industrie- und Handelsbetriebe sind, die über die Höhe der Beiträge verärgert sind. Die Befürworter des Kammersystems verweisen hingegen darauf, dass Österreich ein Land ist, bei dem Arbeitskämpfe am grünen Tisch und nicht mit Streiks ausgetragen werden.