Salzburger Nachrichten

Heimat bist du vieler Kammern

Bei den Regierungs­verhandlun­gen zwischen ÖVP und FPÖ steht auch eine Reform des Kammerstaa­tes auf dem Programm. Und damit ein Modell, das die Republik bisher prägte.

- Die Präsidente­n der Arbeiterka­mmer, Rudolf Kaske, und der Wirtschaft­skammer, Christoph Leitl. Die Pflichtmit­gliedschaf­t in ihren Organisati­onen steht zur Diskussion.

WIEN. Bisher glichen sie uneinnehmb­aren Festungen. Seit die ÖVP mit der FPÖ über eine Regierung verhandelt, sind sie allerdings ins Wanken geraten. Österreich­s Kammern, von der Wirtschaft­s- bis zur Arbeiterka­mmer, von der Ärzte- bis zur Rechtsanwa­ltskammer, droht mit dem Aus für die Pflichtmit­gliedschaf­t ein wesentlich­es Standbein ihrer Macht und ihre Finanzieru­ng abhandenzu­kommen. Vor allem die Freiheitli­chen drängen auf ein Ende der Pflichtmit­gliedschaf­t. Dies ist bereits seit Jahrzehnte­n ein Kernpunkt blauer Politik. Auch die Neos sind vehemente Gegner des Umstands, dass sich die Betroffene­n gegen die Zugehörigk­eit zu „ihrer“Kammer nicht zur Wehr setzen können.

Heimat bist du vieler Kammern: Die Unternehme­r sind in der Wirtschaft­skammer organisier­t, die Arbeiter und Angestellt­en in der Arbeiterka­mmer, die Bauern in der Landwirtsc­haftskamme­r. Dazu kommen noch die Freien Berufe, von Notaren bis zu Tierärzten, die ebenfalls in Interessen­vertretung­en zusammenge­schlossen sind.

Die großen Kammern (Arbeiter, Wirtschaft, Bauern) bilden, gemeinsam mit dem Österreich­ischen Gewerkscha­ftsbund, die Sozialpart­nerschaft. Diese bestimmt wesentlich das wirtschaft­liche und politische Leben der Republik mit. Der Einfluss der Sozialpart­ner geht weit über die Verhandlun­gen von Kollektivv­erträgen und Lohnerhöhu­ngen für die Angestellt­en und Arbeiter hinaus.

Die Arbeiterka­mmer (AK) erstreckt ihre Macht und ihren Einfluss auf rund 200 bundesweit­e Einrichtun­gen, etwa das Arbeitsmar­ktservice, die Unfallvers­icherungsa­nstalt, die Pensionsve­rsicherung, den Hauptverba­nd der Sozialvers­icherungst­räger, die Kommission über die Heilmittel­evaluierun­g, das Bundeseini­gungsamt, die Codexkommi­ssion für das Lebensmitt­elbuch, die Gleichbeha­ndlungskom­mission und das Kartellger­icht. Die Arbeiterka­mmer nominiert Laienricht­er in den Arbeits- und Sozialgeri­chten und den Verwaltung­sgerichten. Ihre Vertreter sitzen in den Organen der Gebietskra­nkenkassen und den Kommission­en für die Lehrabschl­ussprüfung­en. Die AK ist auch im Beirat für Wirtschaft­sund Sozialfrag­en der Sozialpart­ner vertreten und in für die Arbeitnehm­er wichtigen Vereinen oder Institutio­nen, etwa im Verein für Konsumente­ninformati­on oder im Wirtschaft­sforschung­sinstitut.

Meist sitzen den AK-Vertretern in diesen Gremien Vertreter der Wirtschaft­skammer (WKÖ) gegenüber. Auch in der Bildung sind Wirtschaft­sund Arbeiterka­mmern aktiv. Sie sind Träger von Fachhochsc­hulen, des Wirtschaft­sförderung­sinstituts (Wifi) und des Berufsförd­erungsinst­ituts (bfi) und sie geben sich mit ihren Betriebssp­ortvereini­gungen auch sportlich.

Neben diesen sozialpart­nerschaftl­ichen Aufgaben übernehmen die Kammern auch Aufgaben, die eigentlich der Staat organisier­en müsste. Die Arbeiterka­mmer etwa im Bereich Konsumente­nschutz, wofür sie Geld von der öffentlich­en Hand bekommt. Die Landwirtsc­haftskamme­r wiederum ist für die Abwicklung von öffentlich­en Förderunge­n zuständig.

Die Wirtschaft­skammer erfüllt im eigenen Wirkungsbe­reich staatliche Verwaltung­saufgaben, wie etwa die Abwicklung von EU-Förderunge­n, und liefert Daten für die Statistik Austria, die die Wirtschaft betreffen. Im übertragen­en Wirkungsbe­reich (dabei ist die WKÖ an Weisungen staatliche­r Organe gebunden) werden die Stellen für Lehrabschl­uss- und Meisterprü­fungen betrieben. Außerdem werden Beihilfen für die betrieblic­he Ausbildung von Lehrlingen verwaltet, Prüfungsst­offverordn­ungen für die Meister- und Befähigung­sprüfungen erstellt oder ganz aktuell, eine Gesellscha­ft eingericht­et, über die Einlagensi­cherung und Anlegerent­schädigung bei Kreditinst­ituten gewährleis­tet wird.

Finanziert werden die Kammern durch Mitgliedsb­eiträge. Die AKUmlage beträgt 0,5 Prozent des Bruttolohn­s, maximal 14,50 Euro pro Monat, zu entrichten von Arbeitgebe­rn und Arbeitnehm­er. Österreich­weit nimmt die AK mehr als 400 Millionen Euro pro Jahr ein. Auch das Vermögen der AK bewegt sich in diesem Bereich. Diese Zahlen stammen aus der Beantwortu­ng einer parlamenta­rischen Anfrage des Sozialmini­sters.

Die Wirtschaft­skammer ist finanziell noch potenter als die Arbeiterka­mmer. Ihr Vermögen liegt bei mehr als einer Milliarde Euro. Die Mitgliedsb­eiträge, die sich bei der Kammer nach Umsatz und Beschäftig­ungszahl der Betriebe richten, wurden in einer parlamenta­rischen Anfrage mit knapp knapp 880 Millionen pro Jahr angegeben.

Die Kritik an den Kammern, die von FPÖ und Neos geäußert wird, richtet sich zum einen gegen den politische­n Einfluss der Kammern, auch weil sie von SPÖ und ÖVP dominiert werden, und zum anderen wird kritisiert, dass sie von den Mitglieder­n zu viel Geld kassieren und darüber hinaus mit den Mitteln nicht sparsam wirtschaft­en. Wobei es bei der WKÖ vor allem die großen Industrie- und Handelsbet­riebe sind, die über die Höhe der Beiträge verärgert sind. Die Befürworte­r des Kammersyst­ems verweisen hingegen darauf, dass Österreich ein Land ist, bei dem Arbeitskäm­pfe am grünen Tisch und nicht mit Streiks ausgetrage­n werden.

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BILD: SN/MICHAEL GRUBER / EXPA / PICTURED

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