Chile wendet sich nach rechts
Wer in Chile noch an Politik interessiert ist, hat von der regierenden Koalition die Nase voll. Bei der Präsidentenwahl am Sonntag dürfte das einen Ehemaligen zurück ins Amt bringen.
Die Politikerin gerät bei ihrem Marathon ins Schwitzen. Beatriz Sánchez herzt, lacht und umarmt im Sekundenrhythmus potenzielle Wähler. Kurz vor der Präsidentenwahl am Sonntag kämpft die Kandidatin des chilenischen Linksbündnisses „Frente Amplio“auf einem Wochenmarkt im Mittelklasse-Stadtteil Peñalolén in Santiago noch um Stimmen.
„Wir verdoppeln den Bildungshaushalt“, ruft Sánchez den Käufern zu. „Wählen gehen!“, fordert sie die Standinhaber auf. Sánchez weiß, dass ihr und ihrer neuen Partei nur noch eine hohe Wahlbeteiligung helfen kann, überhaupt in die Stichwahl zu kommen.
Die Umfragen sehen die frühere Journalistin, die gerade einmal zehn Monate Politikerin ist, mit rund 8,5 Prozent auf dem dritten Platz. Vor ihr liegt Alejandro Guillier von der regierenden Mitte-links-Koalition „Nueva Mayoría“. Für ihn wollen 19,7 Prozent der Chilenen stimmen. Davor zieht ein alter Bekannter einsam seine Kreise: Sebastián Piñera.
Der Unternehmer und siebtreichste Mensch Chiles war schon von 2010 bis 2014 Staatschef des langen, schmalen Landes. Ihm sagen Klaus Ehringfeld berichtet für die SN aus Chile die Meinungsforscher 44,4 Prozent der Stimmen voraus. Es scheint also am Sonntag nur um die Frage zu gehen, ob der konservative Milliardär schon jetzt die 50-Prozent-Hürde nimmt oder in die Stichwahl am 17. Dezember muss.
Vor ein paar Monaten sah das noch ganz anders aus. Da schien die „Frente Amplio“(Breite Front) noch zur großen Überraschung in der Lage. Zeitweise lag Sánchez mit ihrer Koalition aus zwölf Parteien und sozialen Organisationen auf dem zweiten Platz in den Umfragen. Aber zur verfliegenden Anfangseuphorie kamen interne Streitigkeiten. Zudem nehmen sich sechs Mitte-linksoder Linkskandidaten im Feld der acht Bewerber gegenseitig die Stimmen weg. Auch wenn bis auf Sánchez keinem ein Resultat jenseits der fünf Prozent zugetraut wird.
In Chile haben die Menschen, die sich überhaupt für Politik interessieren, die Nase voll von der regierenden Koalition. Staatschefin Michelle Bachelet hat in ihrem zweiten Mandat die Quadratur des Kreises versucht und ist dabei gescheitert. Sie ging mit einer Mehrheit im Kongress die Strukturreformen an, welche die wirtschaftlichen und sozialen Altlasten der Pinochet-Diktatur abschaffen sollten. Bachelet wollte das Bildungssystem weitgehend kostenfrei stellen, die Hauptforderung der großen Studentenproteste von 2011. Sie hat eine Steuerund Arbeitsmarktreform angeschoben, eine gerechteres Wahlrecht geschaffen und in dem Land, in dem bis vor Kurzem noch keine Scheidung erlaubt war, sind jetzt gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften legalisiert.
Aber den einen gingen die Reformen nicht weit genug, den anderen sind sie des Teufels. Alles, was die Rolle des Staates in Bildung, Wirtschaft und Gesundheit erhöht, ist für viele Menschen in dem konservativen Land zwischen Anden und Pazifik die Vorstufe zum Kommunismus. Und so rieb sich Bachelet zwischen denjenigen auf, die mehr forderten, und jenen, denen die Veränderungen zu weit gingen.
Hinzu kam gleich zu Beginn ihrer Amtszeit ein Korruptionsskandal um ihren Sohn, der zeitweise auch ihr Berater war. „Dadurch hat die Präsidentin ganz früh Glaubwürdigkeit und Vertrauen, was ihr größtes Kapital war, verspielt“, sagt Claudio Fuentes, Politologe an der DiegoPortales-Universität. Und letztlich stand Bachelet auch die Konjunktur nicht zur Seite. In ihrer Amtszeit sackte das Wachstum der südamerikanischen Vorzeigeökonomie auf durchschnittlich zwei Prozent ab, weil die Weltmarktpreise für Kupfer, das mit Abstand wichtigste Exportprodukt Chiles, in den Keller gingen.
„Hier haben viele den Eindruck, dass Bachelet für die Reformen das Wachstum, den Ausbau der Infrastruktur und die öffentlichen Dienstleistungen geopfert hat“, sagt der Politikberater Eugenio Tironi. Und so tritt die Frau, die laut der Zeitschrift „Forbes“die einflussreichste Lateinamerikas ist, mit einer extrem niedrigen Zustimmungsrate von nur noch 20 bis 25 Prozent ab.
Als sie 2010 ihre erste Amtszeit beendete, sind noch 80 Prozent der Chilenen mit Bachelets Arbeit zufrieden gewesen. Nun wechseln sie auf die scheinbar sichere Seite. Piñera trauen die Menschen die Ankurbelung der Wirtschaft und die Schaffung von Arbeitsplätzen zu.
Aber mindestens die Hälfte der Chilenen interessiert all das überhaupt nicht. Wahlforscher fürchten, dass die Beteiligung an der Präsidentenwahl am Sonntag erstmals unter 50 Prozent rutschen könnte. „Es gibt fast eine verlorene Generation von jungen Chilenen, die entweder das System ablehnen oder so merkantilistisch auf das eigene Fortkommen programmiert groß geworden sind, dass ihnen egal ist, wer im Präsidentenpalast sitzt,“sagt Claudio Fuentes.
Genau diese Masse hat Kandidatin Sánchez auf der Zielgerade des Wahlkampfs im Blick. Immer wieder richtet sie sich auf dem Markt an die Jungen. „Geht am Sonntag wählen, es geht um eure Zukunft, ihr habt es in der Hand“, predigt die Kandidatin der „Frente Amplio“.